Im Dialog
Ein gutes Foto ist ein Foto, auf das man länger als eine Sekunde schaut, sagte der Altmeister Henri Cartier-Bresson.
Heute fotografiert so gut wie jeder, jedes Smartphone hat eine mehr oder weniger gute Kamera. Doch kann man das, was da geschieht, Fotografieren nennen? Das wahllose Umherknipsen, ohne wirklich hinzuschauen?
Was macht gute Fotografie aus? Dass nicht die technisch beste Kamera der Grund für ein gelungenes Foto ist, dürfte sich herumgesprochen haben.
Fotografieren lernen heißt sehen lernen. Licht, Formen und Farben wahrnehmen lernen gehört dazu. Die Prinzipien der Komposition verstehen lernen ebenso. Die Fähigkeit andere Perspektiven als die gewöhnliche Alltagssicht einzunehmen, macht sicher gute Fotografen aus. Aber entsteht dann schon ein besonderes Foto?
Fotografieren bedeutet für mich in einen Dialog zu treten. Wenn ich eine Blüte fotografiere, dann lichte ich diese Blüte nicht bloß ab, weil sie vielleicht ein schönes Motiv ist, weil ich ihre Farben mag. Sie ist nicht nur ein Stoff, ein Material für meine Fotodatenbank. Ich begegne dieser Blüte.
Wirkliche Begegnung zeigt sich in der Haltung, die ich gegenüber einem Motiv einnehme. Wenn ich die Digitalkamera oder das Handy einen Meter vor mir halte, um dann auf dem Bildschirm die Blüte einzufangen, dann habe ich sie nicht gesehen. Wenn ich erst einmal dieser Blüte ohne etwas dazwischen begegne, wenn ich sie wirklich wahrnehme, wenn ich ihr einzigartiges Wesen sehe, das sie von den anderen Blüten unterscheidet, wenn ich ihr von Angesicht zu Angesicht begegne, dann kann ich sie fotografieren. Sie ist dann kein Objekt meines Tuns, sondern sie ist ein Gegenüber. Ich lasse mir ihre Geschichte erzählen, sehe, ob sie gerade anfängt aufzugehen, ob sie bereits kurz vor dem Verwelken ist, bemerke den Raum, der sie umgibt, nehme die ganze Pflanze wahr, zu der sie gehört.
Ich begegne ihr mit einem kindlichen Staunen über ihre Schönheit und ihre Einzigartigkeit. Ich bin bereit, mich von ihr verzaubern zu lassen. Fotografie hat daher auch etwas mit Hingabe zu tun. Nur wenn ich dem, was ich fotografieren möchte, seien es Blüten, Gesichter oder Häuser, mit Neugier und mit offenem Interesse begegne, kann ich seine Geschichte in einem Foto erzählen.
So wird Fotografie zu einer Meditation, ich versenke mich in etwas, und manchmal zu einem Gebet. Es geht dann nicht darum, ein möglichst gutes Foto zu machen – es geht darum, in einem Foto einen Raum zu öffnen, einen Raum, der vielleicht vorher nicht sichtbar war, der sich nur für eine kurze Zeit öffnete und der den Betrachter des Fotos einlädt, diesen neuen Raum zu betreten.
Dieser Dialog ist immer besonders, es sind besondere Augenblicke. Und die Betrachter des Fotos merken, ob es diesen besonderen Augenblick gibt oder ob etwas nur gut fotografiert ist.
In diesem Sinne hat Fotografieren auch etwas mit Demut zu tun. Ich lasse meine Bewertungen von schön und hässlich, interessant oder uninteressant weg und vertiefe mich in mein Gegenüber. Ich habe kein Interesse daran, dass man meine Fotos nachher gut gemacht findet. Ich möchte erzählen von einer Begegnung, von einem Dialog. Darum ist es seltsam zu sagen, ein Foto sei gut oder gelungen, denn eine solche Bemerkung bezieht sich auf den vordergründigen, technischen Aspekt der Fotografie, nicht aber auf jenen ehrlichen Augenblick, der aus der wahrhaften Begegnung heraus ein Foto entstehen lässt, das man länger als eine Sekunde anschauen möchte.
Wenn wir unsere Motive zu Objekten degradieren, degradieren wir uns selbst.
Wir sind dann Jäger, Beutemacher, die als Trophäe ein schickes Foto davontragen wollen. Wir werden dann weder dem Motiv noch uns selbst gerecht. Und wahrscheinlich werden es Fotos sein, die niemand länger als eine Sekunde anschaut.
Wenn wir mit Hingabe und Ehrfurcht allem begegnen, dann gibt es keine guten und schlechten Motive, dann gibt es nur Gegenüber, die mir Fragen stellen. Auch die Frage, ob ich es wage mich einzulassen, ob ich bereit bin, meine Vorurteile abzulegen, meine Gewohnheiten abzustreifen. In diesem Moment kann fast alles mein fotografisches Gegenüber werden. Mein Blick verändert sich. Und das, was andere später an meinen Bildern verzaubert, ist der Zauber einer echten, stattgefundenen Begegnung.
(© Gyde Callesen)
Gyde Callesen ist seit der Jugend intensiv der Fotografie verbunden. Sie arbeitete mehrere Jahre mit einem professionellen Fotografen zusammen.
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Seminarangebot der Schule für Literarisches Schreiben von Gyde Callesen:
Auge und Wort - Fotografie und Schreiben
An diesem Wochenende verbinden wir die Künste des literarischen Schreibens und der Fotografie miteinander. Wir gestalten mit Worten und im Bild und bauen Brücken dazwischen.
Es geht um Grundtechniken der Bildkomposition ebenso wie um grundlegende Stilmittel der Textgestaltung. Dabei geht es u.a. um Strukturen, um Symbole und Metaphern, um Verfremdung und Perspektiven.
Bitte Schreibzeug und Fotoapparat/Smartphone mitbringen.
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