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Alles anders

Markus hatte mich zu seiner Geburtstagsparty im Garten eingeladen. Ich freute mich, ihn nach langer Zeit wiederzusehen und nach meinem fast zehnjährigen Auslandsaufenthalt wieder an ein paar alte Kontakte anknüpfen zu können. Markus und ich hatten zusammen die Schulbank gedrückt, waren als Teenager gemeinsam durch dick und dünn gegangen und hatten manches Geheimnis geteilt.

Ich war erst seit wenigen Wochen wieder zurück in Deutschland und fühlte mich noch ziemlich fremd hier.

Bestimmt wurde gegrillt und ich kaufte fünfzehn Grillwürste. Die, die wir früher schon immer zusammen gegrillt hatten. Ich zog mein altes Hawaiihemd an und holte meinen Oldtimer aus der Garage bei Vinzenz, wo ich mein Lieblingsstück während meines Auslandsaufenthalts untergestellt hatte. Es wurde bestimmt ein tolles Wiedersehen.

Wie früher ging ich direkt in den Garten, einmal ums Haus herum, unter den alten Tannen durch, als ich schon Markus sah. Er ist ganz schön alt geworden, dachte ich, aber vermutlich war ich das auch. Freudig ging ich auf ihn zu.

„Markus, wie geht’s, wie schön dich wiederzusehen, und danke für die Einladung.“

Markus lächelte: „Nico, toll, dass du dabei bist, dass du wieder hier bist.“

Wir umarmten uns. Als wir uns lösten, sah Markus kritisch auf die Wurstpackungen in meiner Hand. Fragend sah ich ihn an. „Stimmt etwas nicht?“

„Wir grillen vegan. Stand in der Einladung. Fleisch gibt es bei uns nicht mehr. Du weißt schon, CO2-Fußabdruck und so. Und Tierwohl.“

Ich sah Markus an, dessen Schläfen grau und Gesichtszüge härter geworden waren.

„Das ist Biofleisch.“

„Ja, kann ja sein. No meat. Wir müssen nur sehen, dass die Würste verschwinden, bevor Mia auftaucht und das sieht. Wenn sie Fleisch nur sieht, also tote Tiere, dann kriegt sie einen Anfall.“

Ich sah Markus an. Mia war seine Tochter, die, bevor ich ins Ausland gegangen war ein sehr niedliches vierjähriges Kind gewesen war und nun offenbar in der Pubertät.

In dem Moment kam Mia um die Ecke. „Papa, wer ist das?“

Ich versuchte, unauffällig die Würstchen hinter meinem Rücken verschwinden zu lassen.

„Nico, mein alter Freund, erinnerst du dich nicht?“

„Nö.... alter weißer Mann eben, die sehen alle gleich aus.“

Sie verschwand wieder. Ich merkte, wie mir heiß wurde. Was sollte ich mit den Würstchen machen?

Markus sagte: „Sorry, ich muss an den Grill, sonst brennen die Tofuknacker an. Nimm dir einen Stuhl, sind schon einige Leute da.“

Langsam folgte ich Markus in den Garten, wo einige Leute herumstanden und sich unterhielten. Ich erkannte Nils, mit dem ich früher Musik gemacht hatte. Und dachte an die Würstchen.

„Hallo, Nico, schön dich zu sehen“, wie aus dem Nichts stand Lisa vor mir, Markus’ Frau. Ich lächelte etwas unsicher. Ich hatte immer noch die Würstchen in der Hand.

„Ich wusste nicht, dass, ähm, hier vegan gegrillt wird....“

Sie sah auf die Würstchen. „Ohje...Fleisch.... ja... – ach, Moment... ich muss den Reis vom Herd holen....“ Schon war sie wieder weg.

Und ich stand mit den Würstchen da, jederzeit in Gefahr als fleischfressender, alter weißer Mann von Markus’ Tochter gelyncht zu werden. Weil mir nichts Besseres einfiel, steckte ich die Packungen ins Geäst des alten Holunders neben mir und ging dann weiter zu den anderen Gästen. Als ich einmal in der Runde die Hand schütteln wollte, wichen die Leute einen halben Meter zurück und verweigerten den Handschlag - was hatte ich nun falsch gemacht – es schien hier mehr in der Zwischenzeit passiert zu sein, als ich angenommen hatte.

Eine Dame mit rot gefärbten Haaren sagte: „Wir geben uns nicht mehr die Hand. Du weißt schon, Corona, Pandemie und so. Ist zwar schon ein paar Jahre her, aber wir haben es beibehalten, auf diese unnötige Ansteckungsgefahr zu verzichten.“

Ich nickte langsam und setzte mich auf einen der Gartenstühle.

„Dann eben so ein Hallo in die Runde.“

Ich brauchte ein Bier, dringend, stand wieder auf. Und weil alle immer noch betreten schwiegen, sagte ich: „Schönes Wetter heute, super für so eine Gartenparty“ und zeigte auf den strahlend blauen Himmel.

„Wir brauchen dringend Regen. Gutes Wetter ist kein gutes Wetter mehr“, die rothaarige Dame sah mich streng an, wie eine Lehrerin, wenn ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte.

„Okay“, sagte ich und ging zu den Getränken. Ein Bier musste her. Ich stand vor dem Tisch und sah die Getränke an – Wasser in allen möglichen Variationen, still, sprudelig, in einer Karaffe mit irgendwelchen Kräutern darin, daneben Biolimonaden, Biosäfte. Kein Bier, kein Wein, kein Sekt.

Markus kam gerade vorbei. „Wo hast du denn das Bier gelassen, Markus?“

Ich hatte es etwas zu laut gesagt offenbar, die Gesellschaft drehte sich wie in Zeitlupe zu mir um.

„Wir trinken keinen Alkohol mehr, schon seit Jahren. Du weißt schon, no drugs.“

Ich lächelte einmal mehr verunsichert und griff zu einer Limonade: Ingwer-Orange.

„Sicher, ist ja sinnvoll“, murmelte ich. Und dachte an die südamerikanischen Steaks und das herbe Bier dazu. An die lockeren Menschen dort, die immer so freundlich waren, wo ich mich immer wie zu Hause gefühlt hatte.

Ich setzte mich mit meiner Ingwer-Orangen-Limonade wieder auf den Gartenstuhl und beschloss, besser nichts mehr zu fragen und zu sagen.

Da stürzte Mia in die Runde: „Wem gehört denn diese fossile Drecksschleuder vor unserem Haus? Papa, wir haben doch nicht etwa Gäste, die kein E-Auto fahren?“

Ich verschluckte mich an meiner Limonade und hustete. Markus sah in meine Richtung und sagte: „Liebling, ich habe keine Ahnung, wer heute noch so ein Auto fährt.“

Ich vergaß meinen Vorsatz zu schweigen, ich war noch nie besonders gut in dezenter Zurückhaltung gewesen: „Das ist nicht so ein Auto, das ist ein Ford Thunderbird 1955.“

Jetzt starrte Mia mich an. „Du traust dich so eine Drecksschleuder zu fahren? Ist dir das völlig egal, wie es unserer Generation gehen wird, wenn wir keinen Lebensraum mehr haben? Papa, du hast so einen Freund?“

Die Gesellschaft im Garten wohnte schweigend dem Schauspiel bei.

„Ja, dein Papa hat so einen Freund mit so einem Auto.“

„Lass die Karre schnellstens verschrotten und kaufe dir ein ordentliches E-Auto“, Mias missionarischer Eifer schien keine Grenzen zu kennen. Ich wusste ja, dass die Pubertät eine schwierige Zeit war, aber ich hatte in dem Alter nicht andere Leute darüber aufgeklärt, was sie für Autos zu fahren und was sie zu essen haben.

Ich versuchte meinen Puls zu beruhigen. Drecksschleuder, Karre, was für Worte für einen solchen Oldtimer.

Ein Glück war das Essen nun soweit, das würde die Gemüter hoffentlich etwas beruhigen. Ich ließ mir zwei Tofuwürste und ein veganes Schnitzel auf den Teller legen. Ketchup suchte ich vergeblich, besser nicht fragen. Gab es bestimmt nicht aus triftigen Gründen. Ich fand nur Mango-Chutney und vegane Mayonnaise.

„Ausgezeichnet die Tofuknacker“, sagte der Mann, den ich als Nils identifiziert hatte. „Sehr gut gebraten.“ Man lobte ausführlich die veganen Grillkünste von Markus und die veganen Salate von Lisa und alle anderen Co2-neutralen Nahrungsmittel, die mitgebracht worden waren.

„Und, Nico, wie war es in Südamerika? Erzähl doch mal.“

Mir wurde etwas heiß, ich wollte es vermeiden, in dieser Gesellschaft weiterhin irgendwie im Mittelpunkt zu stehen. Die Gäste schauten mich plötzlich alle an. Ich dachte an die Würstchen im Holunderbusch.

Mia kreischte auf und ließ ihr veganes Würstchen fallen. „Du fährst nicht nur so eine Verbrenner-Karre, du bist auch noch mit dem Flugzeug unterwegs?“

Ich sah sie an: „Ja, so sieht es aus, vier bis fünf Tonnen CO2 pro Flug.“

Markus sagte: „Nico hat dort gearbeitet, Mia. Er hat dort zehn Jahre gelebt.“

Mia hob ihr Würstchen wieder auf. „Entwicklungshilfe?“

„Automobilindustrie“, antwortete ich, darauf gefasst, dass sie mich gleich mit ihrem Tofuwürstchen bewerfen würde.

Mia stand auf und ging ins Haus. Ich atmete auf.

Auf weitere Bitte von Markus erzählte ich etwas von Brasilien, von meiner Arbeit dort, von tollen Erfahrungen mit Menschen und in der Natur.

„Wir hatten da ein tolles Team, ich hatte viele tolle Kollegen, hat Spaß gemacht.“

Die Dame mit den roten Haaren hakte ein: „Nur Männer?“

„Nein, wieso?“

„Naja, weil du von Kollegen sprichst, nicht von Kolleg*innen.“

„Achso, ja, ja, in der Branche sind ja mehr Männer tätig als Frauen, aber ich hatte viele tolle Kollegen und Kolleginnen.“

Das war echt anstrengend hier. Mir schienen hier mehr Fettnäpfchen aufgestellt, als ich erahnen konnte.

„Kolleg*innen“, sagte die Frau mit den roten Haaren.

Hilflos sah ich in Richtung Markus, aber der war mit seinem veganen Schnitzel beschäftigt.

„Du weißt ja nicht, ob unter den vermeintlichen Männern und Frauen auch non-binäre Personen waren.“

Scheiße, was war hier in den letzten zehn Jahren passiert? Ich kam mir vor, als wäre ich ein Jahrhundert weg gewesen. Sicherheitshalber und um des lieben Friedens willen nickte ich. Von dem deutschen Gendern hatte ich aus der Ferne etwas mitbekommen, aber ich dachte, das spielte nur eine Rolle in Randgruppen und schon mal gar nicht auf so einer Gartenparty.

Irgendwie hatte man sich nun entschieden, mich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu belassen.

„Und, was machst du hier jetzt nach deiner Rückkehr?“ fragte eine andere Dame aus der Runde.

„Im Moment sichte ich die ganzen Kartons, die ich hier gelassen habe und gucke, was ich noch brauche, was nicht. Und da hab ich doch meine alten Kinderbücher wiedergefunden – Jim Knopf, Pippi Langstrumpf und so. Da dachte ich, dass ich die an die Bücherei geben kann. Tolle Bücher.“

Die Dame mit den roten Haaren sah mich an, als wäre ich ein Aussätziger.

„Jim Knopf? Pippi Langstrumpf? Bitte!“

Da war also das nächste Fettnäpfchen und ich wusste nicht, was darin schwamm.

„Ja, die alten Klassiker. Haben wir doch alle gelesen.“

Die Dame, die mich eben gefragt hatte, was ich nun mache, sagte: „Ja, und eben die Bücher, die man nicht mehr liest und vorliest, zumindest nicht in der Ausgabe.“

Aha. Ich hatte wohl wirklich einiges nicht mitbekommen.

„Da sind doch die N-Wörter enthalten und andere rassistische Worte. Das geht in der heutigen Zeit nicht mehr. Die Verlage erstellen gerade neue Ausgaben, in denen das nicht mehr vorkommt, ein Glück.“

Ich schluckte. „Man schreibt Kinderbuchklassiker um?“

„Ja, natürlich. Man kann doch Kindern heute nicht mehr solche Bücher vorlesen. Mit solchen Wörtern.“

Meine Ohren begannen zu sausen. Solche Wörter, solche Bücher, solche Autos, solche Freunde. Die Bücher stammten doch aus einer anderen Zeit. Wollte man Goethe und Shakespeare auch umschreiben? Ich sagte lieber nichts.

Ich musste nach Hause. Als ich aufstand, war mir etwas schwindelig. Ich war soviel Tofu und Ingwer-Orangen-Limonade nicht gewohnt.

„Ich, ähm, ich muss dann leider schon los.... ich habe noch einen wichtigen Call heute abend....“, stotterte ich, als plötzlich ein spitzer Schrei ertönte.

Mia kam mit hochrotem Gesicht angerannt und hielt meine Würstchen in die Luft.

„Was ist das? Diese Überreste von toten Tieren hingen hier im Holunderbusch. Welches Schwein hat das gemacht?“

Markus vertiefte sich sehr tief in seinen Teller. Ich sah den verbotenen strahlend blauen Himmel an und tat so, als würde ich Mias Blicke nicht bemerken.

„Ich bin dann mal weg“, sagte ich und ging Richtung Gartenpforte.

Als ich gerade vor meinem Donnervogel stand, hörte ich Schritte hinter mir.

Ich hatte Angst. Die hatte ich in Südamerika nie gehabt. Ich erwartete einen Messerangriff.

„Nico, es tut mir leid“, ich hörte Markus’ Stimme. „Es hat sich hier einiges verändert, seit du wegegangen bist.“

„Ich weiß“, antwortete ich.

Markus wollte mich umarmen.

Ich wich zurück. „Man sollte die Ansteckungsgefahren minimieren“, sagte ich.

Und stieg in mein Auto.

Markus sah mich an. Vielleicht war Traurigkeit in seinen Augen.

„Es ist alles nicht mehr so einfach wie damals“, sagte er.

Ich ließ den Motor des Donnervogels anspringen.

„Es ist alles so kompliziert, wie wir es machen.“

Dann fuhr ich davon, ohne zu winken. Nicht wie früher.