Hauptsätze klingen klar. Sie klingen einfach. Sie sind übersichtlich. Und sie haben etwas Statisches. Manchmal auch Hämmerndes.
Wenn man dagegen anfängt, die Sätze ineinander zu verschränken, vielleicht um herauszufinden, wie ein besonders langer Satz gelingen kann, ohne den roten Faden zu verlieren, so wie bei Thomas Mann, dann merkt man, wie hier die Sprache zu einem mäandernden Fluss wird und diese und jene Kurve nimmt, mal in einen Relativsatz einbiegend, dann in einem Temporalsatz abschweifend, um schließlich mit dem richtigen Wort zu enden.
Hauptsätze kann man schnell und nebenbei verstehen. Texte aus Hauptsätzen verlangen nicht viel Aufmerksamkeit. Sie sind holzig, wie kurze, harte Schritte, gesetzt auf steinernem Boden. Verschlungen, ausufernde Satzkonstruktionen hingegen brauchen mehr Aufmerksamkeit, sowohl beim Leser oder Hörer und beim Verfasser. Man muss ihnen folgen, sie fordern heraus, auf den Weg zu achten, sich nicht in einem Nebenpfad zu verirren und den roten Faden im Auge zu behalten.
Wenn Texte immer schneller und immer mehr nebenbei, vor allem auf smartphones und Laptops gelesen werden (und geschrieben werden), dann gibt es oft nur noch Hauptsätze. Diese hinsichtlich der Ebenen der Sprache am meisten im physischen Bereich angesiedelten Sätze, denen der federnde Klang der Nebensätze oft fehlt, sind einfach zu handhaben. Und so lesen wir in den ganzen Online-Magazinen und Online-Nachrichten, die weitestgehend das Lesen in einem Buch ersetzen, kurze Hauptsätze.
Seit fünfundzwanzig Jahren leite ich Gruppen für Literarisches Schreiben, und auch dort ist dieses Phänomen zu beobachten, dass seit etwa fünf bis sieben Jahren immer mehr die Tendenz einzieht, sich immer weniger die Nebensätze zuzutrauen, sondern bei den handlichen Hauptsätzen zu bleiben. Jugendliche kommen in Einzelstunden, kurz vor dem Abitur, und merken selbst, dass ihre Texte irgendwie fad geworden sind, dass da etwas fehlt, ohne so recht zu wissen was. Ich lese ihre Texte und finde viele kurze Hauptsätze und mehr oder weniger immer die gleichen Wörter. Mit der abnehmenden Komplexität des Satzbaus schrumpft offenbar auch der aktive Wortschatz zusammen auf wenige, bewährte Wörter.
Abgesehen davon, dass solche Text meist langweilig sind, wenig Überraschungen bergen, wie sie sich hinter einer Kurve eines Nebensatzes verbergen könnten, sind sie zudem Spiegelbild eines vereinfachten Denkens.
Wer nicht mehr lernt, komplexe Zusammenhänge zu durchdenken, schreibt einfache Sätze. Oder andersherum: Wer ständig einfache Sätze hört und liest, verändert sein Denken in Richtung Einfachheit, Schlichtheit, weniger Komplexität.
Ein Phänomen, das in unsere Zeit passt, in das Zeitalter des Materialismus, in dem fast alles auf die physische Realität reduziert wird, in dem die Erwähnung des geistigen Ursprungs des Menschen der Ketzerei gleichkommt, in dem das Schwarz-Weiß-Denken boomt und die Vielseitigkeit der Wahrheit auf schlichte Formeln reduziert wird.
Wenn man immer mehr einfach denkt und schreibt und redet, dann erscheint die Welt eben auch so: einfach und schwarz-weiß. Doch gerade in der heutigen, immer unübersichtlicher werdenden Welt, brauchen wir die Fähigkeit, uns auf die Komplexität und die Ambivalenz der Welt einlassen zu können. Wir brauchen Ausbildungen, die dies vermitteln und fördern. Und Räume, in denen diese Fähigkeit wiedererlangt werden kann. Darum ist es vielleicht gerade heute umso wichtiger, auch einmal wieder zu den Klassikern der Weltliteratur zu greifen, sich mit einer Sprache zu konfrontieren, die alles andere als schlicht und eingängig ist, die nicht dafür gemacht ist, auf möglichst wenig Platz möglichst schrill und aufmerksamkeitsheischend auf Instagram oder Tiktok zu erscheinen.
Um sich dann auch wieder auf die Ambivalenz der Welt und der Menschen einzulassen, mit all den dazugehörigen Fallstricken und Widersprüchlichkeiten. Dann brauchen wir die Welt nicht in gut und böse einteilen, in richtig und falsch, dann brauchen wir nicht mehr auf der richtigen Seite stehen, denn dann können wir denken und fühlen, dass die Welt und die Menschen sehr viel Verschiedenes auf einmal sind und vor allem nie eindeutig.
Wir alle sind bunte Satzkonstruktionen aus Haupt- und Nebensätzen, niemand von uns ist nur ein Hauptsatz.