Es gibt das neue Vorab. Das Vorab vor Büchern, am Anfang von Filmen, vor dem Beginn eines Podcasts.
„Dieser Text enthält explizite Schilderungen psychischer und physischer Gewalt. Die Inhalte können belastend oder retraumatisierend auf Leser:innen wirken.“
Bevor wir uns unvoreingenommen einem Buch nähern können, wird unsere Wahrnehmung auf einen bestimmten Inhalt gelenkt. Wir werden erst einmal gewarnt, vorgewarnt, dass es bei Charles Dickens um Sexismus geht, dass in Shakespeares Julius Cäsar Mord vorkommt, naja, und in den Werken von Goethe und Schiller ließe sich sicher auch einiges zu finden, was dringend einer Triggerwarnung bedarf.
Dass es in der Kunst immer um die Form des Dargestellten geht und nicht um die Befriedigung eines Bedürfnisses nach bestimmten Aufregern, wird plötzlich sekundär.
Gleichzeitig inhalieren vor allem die jüngeren Generationen Serien wie Games of Thrones, sitzen stundenlang vor Shooter-Computerspielen wie Counterstrike und versinken in Büchern des Genres Dark Romance, sind also im Umgang mit fiktiver Gewalt intensiv geübt. Aber bei Shakespeare muss dann eine Triggerwarnung ran?
Vielleicht hat es etwas mit der Ausdehnung des Traumabegriffes zu tun, wie er in den letzten dreißig Jahren stattfand. Er wurde immer mehr angewendet auf alle möglichen Erfahrungen von unangenehm oder vielleicht auch etwas verstörend und immer weiter seiner Ursprungsbedeutung der Erfahrung einer existentiell bedrohlichen Situation entfremdet.
Die Idee, dass man Menschen vor jeglichem Unwohlsein schützen müsse, wird damit verteidigt, dass man heutzutage aufmerksamer für die Probleme von Minderheiten geworden wäre. Allerdings ist diese Idee durchaus paternalistisch geprägt, wenn man glaubt, alle möglichen Minderheiten schützen zu müssen, die vielleicht gar nicht geschützt werden wollen. Und es fördert die irrige Vorstellung, dass Menschen schwierige Situationen nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen können. Die allgemeine Tendenz zur Anleitung zum betreuten Denken in diesen Tagen, das vor allem in den Medien weit verbreitet wird, ausgehend von der Vorstellung, dass Menschen nicht mehr fähig seien, sich aus verschiedenen Informationen eine eigene Meinung zu bilden, findet auch hier einen Niederschlag in Form des betreuten Fühlens.
Tatsächlich ist es zudem eine irrige Annahme, dass Trigger so eindeutig zugeordnet werden könnten. Aus meiner jahrelangen Arbeit mit traumatisierten Menschen weiß ich, dass Trigger alles Mögliche sein können – es kann der Geruch eines bestimmten Parfüms sein, es kann der Anblick eines Gürtels sein, es kann eine bestimmte Farbe sein, ein bestimmter Geschmack – es kann alles sein, je nachdem was ein Mensch in einer bestimmten Situation erlebt hat. Wollten wir alle Trigger für alle Menschen aus der Welt schaffen, könnten wir nicht mehr normal sprechen, nicht mehr normal handeln, nicht mehr einfach leben. Alles würde unter dem Verdacht stehen, eine schlimme Erinnerung auslösen zu können.
Ja, das Leben ist so, es ist eine Zumutung, und für Menschen, die echte Traumata erfahren haben, ist es oft eine besondere Zumutung, weil sie nie wissen, wo sie welchen Triggern begegnen werden. In der Traumatherapie ist der Weg dann allerdings, nicht alle möglichen Trigger zu vermeiden, sondern die persönlichen Trigger zu erkennen und zu lernen, anders mit ihnen umzugehen – es ist ein Bewusstwerdungsprozess, der darauf basiert das früher Erlebte von der Gegenwart zu trennen.
Diese neue deutsche Welle der Triggerwarnungen hingegen fußt auf der Vorstellung, wir müssten alles Mögliche vermeiden, vor allem Möglichen warnen, auf alles Mögliche hinweisen, weil irgendjemand von uns sich sonst unwohl fühlen könnte mit dem, was er liest, sieht oder hört.
Als Künstlerin ist diese Art der gelenkten Wahrnehmung ein Graus für mich. Und ich schreibe Bücher, seit über zwanzig Jahren, die sich mit schwierigen Themen wie sexueller Missbrauch, Selbstverletzung, Dissoziation, Depression, Panikattacken und Gewalt auseinandersetzen, also alles triggerwarnungspflichtige Texte. Doch ich bin nicht bereit, diesem Zeitgeist zu folgen, meinen Büchern in gendergerechter Sprache mit Gender-Sternchen eine solche Warnung voranzustellen. Denn ich traue meinen Leserinnen und Lesern durchaus zu, dass sie vorab schon wissen, worauf sie sich einlassen (es gibt Klappentexte und Leseproben), und dass sie dazu fähig sind, selber zu merken, wenn ihnen etwas zuviel wird (man kann ein Buch zuklappen und weglegen). Ich will nicht die Aufmerksamkeit von vornherein auf ein bestimmtes Thema lenken, das vielleicht eine Rolle spielt, um das es aber im Kern gar nicht geht, wie eine solche Warnung suggeriert.
Als Schriftstellerin sind es schwierige Zeiten im Moment. Ich muss dabei zusehen, wie die Sprache allenthalben verhunzt wird, um zu vermeiden, jeder Form von Minderheiten auf den Schlips zu treten. Ich muss zusehen, wie die sexuelle Orientierung von Menschen, die nur ein menschliches Merkmal von sehr vielen ist, sprachlich derart in den Vordergrund gerückt wird, dass es das Wichtigste zu sein scheint. Ich muss zusehen, wie Bücher und Filme mit vorangestellten Triggerwarnungen verunstaltet werden. Ich muss zusehen, wie man meint, Menschen nichts mehr zutrauen zu können, wie in jeder Ausstellung, bei jedem Kunst-Event erst einmal Awareness-Teams etabliert werden müssen, die jegliches Unwohlsein auffangen.
Ich muss vielleicht bei vielem zusehen, womit ich mich sehr unwohl fühle - (ja, man kann sich angesichts dieses ganzen awareness-Gedöns tatsächlich sehr unwohl fühlen) – aber ich muss nicht
mitmachen.
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