Mir scheint, ich bin überwiegend von Zeitgenossen umgeben, die der Demokratie nicht allzu viel zutrauen. So wie sie sich aufführen, scheint die Demokratie nur noch ein Schatten ihrer selbst zu sein, ein verfallendes Haus mit Einsturzgefahr. Sie scheint so fragil zu sein, dass man ihr keine Kontroverse, keine Debatte, keine Meinungsvielfalt mehr zumuten kann. Überall werden Demonstrationen und Menschenketten veranstaltet, als sei die Demokratie kurz davor unterzugehen, für immer zu versinken.
Erstaunt sehe ich zu, denn mein Bild von der Demokratie ist ein anderes – ich rette sie nicht, indem ich sie vor allzu abweichenden Meinungen bewahre, indem ich ihr nichts zumute und zutraue, sondern indem ich gerade völlig verschiedene Positionen zulasse, indem ich Auseinandersetzung und auch Streit ermögliche. Die Demokratie, wie sie derzeit sowohl von vielen Politikern als auch Wählern propagiert wird, erscheint mir zunehmend wie eine Labor-Demokratie, die man sorgsam unter kontrollierten Bedingungen wegsperrt, anstatt sie dem Schmutz des alltäglichen und politischen Lebens auszusetzen.
Die, die meinen, die Demokratie zu retten, sind das nicht gerade diejenigen, die sie zerstören, indem sie sie ihrer Grundlage berauben, nämlich gerade im Morast des Kampfes völlig verschiedener politischer Positionen ihre Kraft zu entfalten?
Lebt Demokratie nicht gerade von dieser Auseinandersetzung, von offener Debatte und vor allem auch von Meinungsfreiheit? In dem Moment, in dem ich anfange unliebsame Meinungen im Namen der Demokratie zu diskreditieren, greife ich die Demokratie an. Demokratie, ja, natürlich – aber nur für die Richtigen? Gefährden freie Wahlen die Demokratie? Der vermeintliche Demokratieschutz wird missbraucht, um bestimmte Meinungen auszugrenzen, um sich nicht mehr inhaltlich mit ihnen auseinandersetzen zu müssen, um den Meinungskorridor auf erwünschte politische Positionen zu verengen.
Wenn dies so weitergeht, wenn man die sich abzeichnenden Tendenzen zu Ende denkt, dann haben wir irgendwann eine Einheitsmeinung und daraus folgend eine Einheitspartei – und das kennen wir bereits aus unserer Geschichte.
Es mutet immer wieder absurd an, wenn die selbsternannten Demokratieverteidiger zu Mitteln greifen, die sie denen vorwerfen, die sie verachten. Wenn man beginnt, die Demokratie mit totalitären Maßnahmen durchzusetzen, dann ist das schon lange keine Demokratie mehr. Dieses Paradoxon scheint jedoch den wenigsten aufzufallen.
Wenn Positionen abseits der geduldeten Meinungsbahn auftauchen, wenn diese laut werden, wenn diese auch noch Rückhalt in der Bevölkerung finden, dann rennt man reflexartig auf die Straße, um gegen Rechts zu demonstrieren. Und fühlt sich gut dabei. Denn als Demokratieverteidiger steht man ja automatisch auf der Seite der Guten, das ist ja ganz einfach.
Interessanterweise sind diejenigen Menschen, die nun begeistert gegen Rechts und angeblich für die Demokratie demonstrieren, zu einem großen Teil diejenigen, die die Corona-Maßnahmen stramm mitgetragen haben, die immer noch strengere Maßnahmen forderten, denen der Lockdown gar nicht lang genug sein konnte und die der Einführung einer Impfpflicht frenetisch applaudierten.
Dies kann zumindest für einen Moment irritieren, für eine gewisse kognitive Dissonanz sorgen, zumindest beim kritischen Beobachter, aber die munteren Demokratieretter scheinen in ihrem Verhalten keinen Widerspruch zu sehen.
Während der Corona-Zeit gab es tatsächlich Anlass, sich um die Demokratie zu sorgen, wenn nach und nach sämtliche Grundrechte ausgehebelt wurden, wenn eine von der Verfassung nicht legitimierte Ministerpräsidentenkonferenz über Berufsverbote, Impfpflichten und Schulschließungen entschied. Doch wer in der Zeit für die Demokratie auf die Straße ging, war ein irrer Verschwörungstheoretiker, ein Aluhut, ein Querdenker, ein Covidiot.
Wer heute auf die Straße geht, um für die Demokratie zu demonstrieren, ist ein guter Mensch, ein Demokrat, ein Vorbild – auch wenn er eventuell versäumte sich zu fragen, wie es überhaupt zu einer solch großen Zustimmung für eine Partei wie der AfD kommen konnte. Hauptsache gegen Rechts auf die Straße gehen, dabei ordentlich Selfies machen, es in den Status von whatsapp stellen und allen zeigen, wie das geht, mit dem sich richtig verhalten und auf der richtigen Seite stehen.
Längst ist die Moral oder vielleicht eher die Moralkeule an Stelle sachlicher Auseinandersetzung getreten. Das war in Coronazeiten so – statt sich nüchtern mit Zahlen und Fakten auseinanderzusetzen, wurde sofort gefordert solidarisch zu sein, egal was das dann bedeutete - aber solidarisch, bitte, das will doch jeder sein – also Regeln befolgen. Das war und ist in Sachen Ukrainekrieg so – statt nüchterner Betrachtung, was zu der jetzigen Lage geführt hat, wird verkündet, dort würden die westlichen Werte verteidigt. Und dann muss man natürlich Waffen liefern, da haben sich alle anderen Meinungen sofort erübrigt.
Und nun dasselbe Muster bezogen auf die Migrationspolitik – ein sachliches und pragmatisches Handeln hinsichtlich einer die Strukturen dieses Landes überfordernden Migration scheint unmöglich. Die kleinsten Schritte, um die Migration geringfügig etwas mehr zu steuern, enden in einer hysterischen Debatte, als wäre der Untergang der Zivilisation nah, als sei das Ende der Demokratie damit besiegelt.
Darunter machen wir es in Deutschland nicht. Pathos muss sein. Die Moralkeule wird furchterregend über den Köpfen des Wahlvolkes geschwungen, damit es wisse, was zu tun ist, damit es nicht auf die Idee komme, andere Meinungen als die allgemeingültige zu entwickeln.
Wo die Moralkeule wirkt, ist die Manipulation nicht weit. Angst ist ein wunderbares Mittel, um die Bevölkerung gefügig zu machen. Hat in Coronazeiten bestens funktioniert, hat in Bezug auf den Ukrainekrieg funktioniert und funktioniert auch in Sachen Migrationspolitik prima. Einmal war es die Todesangst, dann war es die tief verankerte Angst vor ‚den Russen’ und nun ist die Angst vor erneutem Faschismus, vor Rechts, vor einer Wiederholung unserer Geschichte. Man muss nur ein wenig den Schuldkomplex des deutschen Volkes antriggern und schon läuft alles wie geschmiert. Was im Moment passiert und auch schon zu Coronazeiten geschah, zeigt letztlich nur, wie wenig wir unsere Geschichte aufgearbeitet haben. Sicher, wir haben Gedenkstätten errichtet, wir halten Gedenkveranstaltungen ab, wir machen Besuche in Konzentrationslagern zur Pflicht für alle Schüler – aber haben wir wirklich etwas aufgearbeitet?
Sind wir in der Lage, eine unkontrollierte Migration vernünftig zu begrenzen, ohne uns deshalb in verzweifelten Schuldgefühlen zu verlieren, die jedes rationale Handeln unmöglich machen? Gleichzeitig wird der Nazi-Stempel in diesem Land mittlerweile bekanntlich inflationär für alle gebraucht, die irgendwie eine andere Meinung haben, die in Coronazeiten es wagten, kritische Fragen zu stellen, die für Verhandlungen im Ukrainekrieg werben und die sonstige Denk- und Sagverbote einfach nicht akzeptieren wollen. Dieser inflationäre Gebrauch der Nazi-Etikette ist allerdings eine Banalisierung dessen, was die Nazis an Gräueltaten begangen haben. Aber auch das scheint keine kognitive Dissonanz bei denjenigen auszulösen, die gern die politische Meinung auf bestimmte Positionen einschränken und bestimmen möchten, was und wer gewählt werden darf.
So sind wir damit konfrontiert, dass uns permanent lauter Verdrehungen der Tatsachen angeboten werden, stets geschwängert von moralinsauren Worten, so dass die meisten irgendwann völlig verwirrt sind, was denn nun eigentlich richtig sei.
Politiker, die eifrig den Angstknopf betätigen – wir müssen Waffen liefern, sonst greift Putin uns an; wir sitzen im Kalten, wenn wir nicht die Klimawende in kürzester Zeit durchboxen; wir werden wieder von Rechts übermannt, wenn wir nicht aufpassen – lassen sich nun mit dem Wort Zuversicht plakatieren.
Besser kann man Gaslighting nicht vormachen, jene Manipulationsmethode, bei der das Opfer schließlich nicht mehr zwischen Wahrheit und Schein unterscheiden kann und seiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr traut.
Inmitten dieser ganzen Verwirrung bleibt nur eines – im Zweifel gegen Rechts demonstrieren, ohne so genau zu wissen, was dieses Rechts eigentlich alles beinhaltet – Hauptsache zu den Guten gehören, wenn schon die Grenzen zwischen dem Guten und dem Bösen immer weiter verschwimmen, und dabei schnell vergessen, dass das Böse meistens im Gewand des Guten kommt.
Ja, diese Zeiten sind eine Herausforderung für jeden denkenden Menschen. Man reibt sich die Augen, immer erneut, ja, es ist kein schlechter Traum, es ist die Realität. Auch wenn wir als einzelner Bürger dieses Landes nicht alles beeinflussen oder steuern können – jeder klar zu Ende gedachte Gedanke, jede vernünftige Analyse, jedes Verweigern der Einschüchterung durch Moralkeulen, jedes Vermeiden von reflexhaften Handlungen, um bloß zu den Guten zu gehören, jede Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Andersdenkenden – all dies wird sicher helfen, wieder klarer zu sehen, dass die Demokratie kein altes abgemagertes Pferd ist, das zu nichts mehr zu gebrauchen ist, sondern dass sie ganz lebendig da ist, wenn wir es denn zulassen.