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Kunst in diesen Zeiten – Notwendige Grenzüberschreitungen

Was kann Kunst, was muss Kunst in diesen Zeiten sein, in denen wir uns zwischen Gendersternchen, Meinungsdogmatismus, Wohlfühlerwartungen, nachpandemischer Verwirrung und Kriegstreiberei bewegen?

Die Gegenwartsliteratur seit der Jahrtausendwende zeichnet sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – vor allem durch eines aus: durch ihr Unpolitisch-Sein, ihre Selbstverliebtheit, letztlich durch die Ästhetik von l’art pour l’art. In Corona-Zeiten duckten sich die meisten Schriftsteller weg, um nicht ihre Verlagsverträge zu verlieren, machten 2G-Lesungen und taten weitestgehend so, als wäre nichts.

Darf Kunst in solchen Zeiten wie diesen sich ausschließlich virtuosen Formexperimenten widmen, ohne irgendeinen Bezug zu Zeit? Kunst muss alles dürfen – sicher. Doch hat nicht gerade auch die Kunst das Potential, Räume für Dialoge, für Austausch zu öffnen  - etwas, was uns derzeit immer mehr verloren geht. Kann Kunst nicht gerade durch Provokation und Irritation eigene Denkprozesse beim Betrachter, Leser, Hörer anregen, statt ihn zum untätigen Konsumenten zu degradieren?

Immer gab es in der Kunst- und Literaturgeschichte diesen Wechsel zwischen Darstellung des Privaten mit dem Rückzug ins Idyll und der Konfrontation mit dem Politischen. Politische Literatur wurde immer wieder als Tendenzdichtung abgewertet, Parteilichkeit wäre nicht mit der Autonomie der Kunst vereinbar. Wurde ein Günter Grass dennoch für sein politisches Engagement gefeiert, so ist es heute kaum noch denkbar, dass ein bekannter Gegenwartsautor so klar politisch Position bezieht, wie es seinerzeit auch Hans Magnus Enzensberger oder Erich Fried wie selbstverständlich taten.

Nun leben wir in anderen Zeiten, der politisch engagierte Autor ist ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert und heute nicht mehr vorstellbar. Als Künstler hat man sich heute rauszuhalten. Wenn man es nicht tut, ist der Aufschrei groß, wie die Aktion #allesdichtmachen in Corona-Zeiten eindrücklich zeigte, als Kritik am herrschenden Narrativ wie Hochverrat behandelt wurde.

Immer weniger Menschen finden, dass man in diesem Land seine Meinung noch frei sagen kann. Mit der neuen Kategorie der Delegitimierung des Staates können Kritiker der Regierung schnell als Extremisten gelten und vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Aus Corona-Zeiten kennt man es, dass viele sich sehr genau überlegten, ob und wo und wie sie Kritik an den Maßnahmen äußern sollten – das Verhalten der Menschen begann auffallend jenem der damaligen Bürger der DDR zu ähneln. Aber bereits solche Vergleiche gelten heutzutage, mögen sie auch auf der Hand liegen, als ein Verächtlich-Machen des Staates und damit als tendenziell extremistisch. In Corona-Zeiten wurde die Bevölkerung von staatlicher Seite dazu aufgerufen, Mitmenschen zu denunzieren, die sich nicht an die Corona-Regeln hielten. Wenn man permanent befürchtet, etwas Falsches zu sagen oder von den Nachbarn beobachtet zu werden, beginnt man sich anders zu verhalten.

Und sollte man mitten in diesem ganzen Geschehen Kunst schaffen, die sich lediglich daran orientiert, dem Feuilleton zu gefallen, von den Kritikern gelobt zu werden, um die eigene Karriere zu sichern? Sollte man sich in avantgardistische Elfenbeintürmchen verziehen, beschäftigt mit weltfernen Formexperimenten, während doch gerade so viel Welt da draußen wartet?

Von der Seite der Kunstschaffenden ist eine deutlich spürbare Anpassung zu bemerken, eine Art Opportunismus der Kreativen, die allerdings bis zu einem gewissen Maß vor dem Hintergrund verständlich werden kann, dass Kunst und Kultur in der Corona-Zeit mit nur einem Fingerschnipsen für nicht systemrelevant erklärt wurden und offen im Raum stand, wie man als Kunst- und Kulturschaffender angesichts dieser politischen Dreistigkeit noch seine Miete und sein Essen bezahlen soll.

Von der Seite der Rezipienten gibt es in diesen Zeiten auch neue und andere Erwartungen, wie Kunst und Literatur sein sollten. Da ich an meiner Schreibschule literarisches Schreiben lehre, also den künstlerischen Umgang mit Sprache, bin ich direkt konfrontiert damit, wie sich Lese- und Hörerwartungen ändern. Die neue gesellschaftliche Prämisse, dass sich jeder jederzeit wohlfühlen solle, dass niemand diskriminiert werden dürfe, trägt Ansprüche an die Kunst heran, die sie nicht erfüllen kann, ohne sich selbst zu vernichten.

Nach einem Gedicht oder einem Text soll bitteschön erst einmal eine Pause gemacht werden, vielleicht auch schon nach einem Absatz, einer Zeile, weil man darüber sprechen möchte, was es mit einem macht, wie es einem damit geht. Jede Zumutung der Kunst soll hier augenblicklich aufgefangen werden – die Bereitschaft, erst einmal mit einer Irritation oder auch einer Verstörung allein umzugehen, dieses Hinausgeworfen-Werden aus der eigenen Komfortzone, in und mit sich selbst zu bewegen, sinkt zunehmend gegen Null. Kunsthallen sehen sich gezwungen Awareness-Strukturen und Triggerwarnungen zu schaffen. Offenbar braucht jede Begegnung mit der Welt, die nicht dem normalen Alltäglichen, Erwartbaren und Absehbaren entspricht, erst einmal feel-good-Räume, emotional-balancing-Zimmer, Sprich-mit-mir-Anlaufstellen. Als Künstler, der Tabuthemen aufgreift, all jenes, was eine Gesellschaft so sorgfältig unter den Teppich zu kehren versucht, sieht man sich schnell mit shitstorms oder sogar mit Morddrohungen konfrontiert. All jene, die Toleranz und Wohlfühlmarken für die auch noch so winzigsten Minderheiten fordern, gehen ihrerseits rigoros gegen all jene vor, die sich nicht dem Diktat von Neopronomina und Gendersternchen unterwerfen.

Wie gehe ich als Künstler mit den immer schriller werdenden Tönen der Gegenwart um? Igonoriere ich sie? Nehme ich sie privat wahr, halte sie aber aus meiner Kunst heraus? Bin ich bereit, das Risiko einzugehen, sie künstlerisch zu gestalten und mich damit öffentlich zu zeigen? Oder ist jede Form von engagierter Kunst für mich sowieso Tendenzkunst?

Die Gegenwart verlangt Positionierungen, von jedem einzelnen, sei es vom Kunstschaffenden oder vom Kunstrezipienten. Beide Seiten haben die Möglichkeit, sich gegen immer enger werdende Räume des Sagbaren und Machbaren zu stellen, sich dem wachsenden Dogmatismus nicht zu unterwerfen und trotz aller Forderungen nach einer störungs- und schmerzfreien Welt eben genau dies zu tun – zu stören.