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Ein neuer Trittbrettfahrer – oder: Von einer dauerempörten und dauerbeleidigten Gesellschaft

Haben Sie ihn bemerkt, den neuen, kleinen Trittbrettfahrer, der sich von der Seite in unser aller Leben geschlichen hat? Der uns in Ohr flüstert, ob wir das, was wir sagen wollen, wirklich so sagen können, ob wir das, was wir tun wollen, wirklich so tun können. Denn nie gab es so viele Möglichkeiten, etwas falsch zu sagen oder falsch zu machen. Unser Leben ist zu einem Slalomlauf um Fettnäpfchen und ausgelegte Schlipse geworden. Der neue Trittbrettfahrer studiert genau, was man von uns in diesen Zeiten erwartet, und seine Fragen sind kritisch und moralisch.

Wenn ich jetzt die Strecke in den Urlaub mit dem Auto fahre, weil ich dann vor Ort flexibler bin und vor allem unabhängig von der dauerstreikenden Bahn, ist dann mein Co2-Fußabdruck für diesen Monat zu groß? Wenn ich die Heizung auf vier drehe, weil mir so kalt ist, bin ich dann unsolidarisch? Wenn ich meine Gasheizung behalte und keine Wärmepumpe einbaue, die zudem die Nachbarn mit ihrem Dauerbrummen in den Wahnsinn treiben würde, verbrenne ich dann die Zukunft der Kinder und Enkelkinder? Darf ich dieses Stück Fleisch noch mit gutem Gewissen essen oder entscheide ich mich lieber für das vegane Hack? Wenn ich kein E-Auto fahre, wie es sich für heute gehört, auch wenn da doch irgend etwas mit dem Kohlestrom war, bin ich dann eine Umweltsau? Wenn ich weiter überzeugt bin, dass es zwei Geschlechter gibt, sollte ich es laut sagen? Wenn ich das Gendern total albern finde, sollte ich es meinen Kollegen kundtun? Wenn ich die Corona-Politik mit ihrem Impfzwang und ihrem Mobbing gegen Ungeimpfte zum Kotzen fand, sollte ich das nicht besser für mich behalten? Wenn ich denke, dass rechts nicht dasselbe wie rechtsextrem ist, kann ich das noch sagen, ohne sofort für rechtsextrem gehalten zu werden? Wenn ich gegen weitere Waffenlieferungen in die Ukraine und für Friedensverhandlungen bin, sollte ich dieses Thema auf der nächsten Familienfeier nicht besser ausklammern? Wenn ich es zumindest merkwürdig finde, dass es nun die guten Diktaturen gibt, mit denen man weiterhin gerne Geschäfte macht, und die falschen Diktaturen, mit denen man nicht verhandeln darf, dann ist das vielleicht eine Meinung, die ich besser für mich behalte. Wenn ich glaube, dass es viele Meinungen geben sollte statt eines einzigen Narrativs, sollte ich das bei meinen Freunden nicht lieber verschweigen? Wenn ich überzeugt bin, dass eine Demokratie auch extreme Positionen ertragen können muss, dass man durch Verbote gar nichts regelt, bin ich dann schon rechts? Wenn ich dagegen bin, dass man Bücher von früher umschreibt, damit sie unserem heutigen Zeitgeist gefallen, bin ich dann Rassist?

Sie weisen das alles von sich? Sie haben noch nie die eine oder andere Frage in sich gehört, nie den leisesten Zweifel am Sagbaren gehabt? Ich glaube Ihnen nicht. Der hochmoralische Trittbrettfahrer ist längst unser aller Mitbewohner geworden, bei manchen mehr, bei anderen weniger. Und je nach Mensch spezialisiert er sich gerne auf einen bestimmten Bereich.

Wir tänzeln also täglich um die zahllosen Fettnäpfchen, versuchen eine gute Miene zum bösen Spiel zu machen und fragen uns vielleicht hin und wieder, ob das irgendwann auch wieder aufhört.

Diese neue Bewegung, jenes Diktat des moralisch Richtigen und Falschen, jenes woke Vermeiden-Wollen von Kränkung um jeden Preis, diese falsch verstandene Rücksichtnahme bewirken vor allem eines: Sie nehmen uns die Freiheit und das Vertrauen. Wenn wir uns immer wieder hinterfragen müssen, ob wir uns der Meinung des Mainstreams anpassen, um nicht am Ende ohne Arbeit oder ohne Freunde dazustehen, werden wir uns zurückhalten. Wenn wir befürchten müssen, in die ‚falsche Ecke’ gestellt zu werden, werden wir lieber schweigen. Die Corona-Zeit hat uns schmerzvoll gelehrt, was es bedeuten kann, die ‚falsche Meinung’ zu haben, was es heißen kann, nicht an ‚die Wissenschaft’ zu glauben. Das hat Wunden hinterlassen, bei uns allen. Wir haben gelernt, vorsichtig zu werden, im Zweifel zu schweigen. Und tragen so dazu bei, dass die Debatte und die Vielfalt immer weniger werden. Der größte Schaden entsteht bekanntlich durch eine schweigende Mehrheit, die zusieht und alles mitmacht.

Vielleicht haben wir nicht gemerkt, wie unser Vertrauen in unsere Mitmenschen, in die Welt, in das Leben immer etwas mehr zerbricht. Wir trauen einander nicht mehr auf die Weise, wie wir es vorher getan haben. In wie vielen Köpfen sind seit der Corona-Zeit noch Fragen wie: Wer stand auf welcher Seite, wer hat bedingungslos mitgemacht, wer war etwa ein Querdenker, ein Impfverweigerer?

Und vermutlich ist in uns allen auch eine einigermaßen große Verwirrung über das gewaltige Hakenschlagen des Zeitgeistes – wenn die ehemaligen friedensbewegten Grünen nun immer lauter nach immer mehr Waffen schreien, wenn Tausende von Menschen gegen rechts demonstrieren, aber gerade vergessen haben, dass es die aktuelle Politik ist, die unerwünschte Wahlabsichten in die Höhe schnellen lässt, wenn vermeintlich linke und liberale Medien und Politiker in der Corona-Zeit immer schärfere und härtere Maßnahmen einforderten, auf einer unmenschlichen Zero-Covid-Politik bestanden und nicht davor zurückscheuten, Menschen mit einer anderen Meinung als Unrat zu beschimpfen.

In den Medien haben wir wieder und wieder vorgeführt bekommen, wie moderne Hinrichtung medial blutfrei funktioniert. Wer in der Öffentlichkeit steht und die falsche Meinung vertrat oder vertritt, wird verbal gnadenlos niedergeknüppelt. Wem man oft genug mögliche Konsequenzen eines falschen Handelns vorführt, zieht sich zurück, schweigt, hält sich heraus. Niemand will ausgegrenzt werden.

So lustig manche Possen dieser Zeit anmuten mögen, gerade aus dem Bereich des woken Genderwahns, so humorlos sind seine Verfechter. Man versteht keinen Spaß, wenn es darum geht, die richtige Weltsicht, die richtige Sprache, die richtigen Ziele zu haben. Da hört der Spaß wirklich auf.

Mithilfe medialer Hypnose haben wir uns den passenden Zeitgeist als kleinen Trittbrettfahrer einpflanzen lassen, der uns von nun an immer gern erklärt, was der richtige Weg sei. Und der manchmal für diese fast unbemerkte Scham sorgt, wenn wir doch eigentlich zu lange duschen, ein bisschen zuviel Fleisch essen, den Geruch nach Benzin mögen, zuviel heizen oder doch in den Urlaub fliegen.

Und so werden wir wohl weiterhin in der Zeit des Tugendterrors und der Moralzange leben, bis wir endlich aufhören uns wegzuducken, und uns aufrichten und uns daran erinnern, was mit Meinungsfreiheit und der Würde des Menschen eigentlich einmal gemeint war.