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Stille Zensur – die stetige Aufforderung unpolitisch zu sein: eine stellvertretende Betrachtung aus der Welt der Literatur

Spätestens seit der Corona-Zeit ist es den meisten aufgefallen, dass sich der Meinungskorridor erheblich verengt hat, dass nur noch bestimmte Meinungen und Ansichten salonfähig sind, dass bei bestimmten Themen nur ein einziges Narrativ bedient werden darf. In den letzten Jahren ist dies so offensichtlich geworden, dass viele meinen, die Corona-Krise sei der Auslöser dafür gewesen. Doch wenn man genauer hinschaut, hat diese nur letztlich etwas sichtbar gemacht, was sich über etliche Jahrzehnte entwickelt hat.

In der Kunst und Literatur kann man spätestens seit der Jahrtausendwende beobachten, wie eine stille Zensur um sich gegriffen hat. Als ich anfing, in dieser Zeit als freie Schriftstellerin zu arbeiten, musste ich schnell begreifen, dass gesellschaftskritische und politische Literatur nicht erwünscht ist, wenn man als junge Autorin Preise oder Stipendien bekommen möchte. Die Methodik ist relativ schlicht – wer politisch und gesellschaftskritisch schrieb, bekam als Nachwuchsautor keine Auszeichnungen und hatte entsprechend weniger Chancen auf Publikationen in den sog. renommierten Verlagen. Dieses latente Zwangsprinzip führte bei nicht wenigen Autoren dazu, dass sie sich einen Gesinnungswandel verordneten und statt aufmüpfiger gesellschaftskritischer Literatur dezente Naturlyrik schrieben. An den etablierten Literaturkaderschmieden in Leipzig und Hildesheim musste man im Stil des lakonischen Realismus schreiben, wenn man eine Chance auf das große Sprungbrett haben wollte. Literatur hatte und habe sich rauszuhalten.

Es machte sich ein krampfhafter Avantgardismus breit, junge Autoren wollten partout originell sein, verzogen sich in stilisierte Elfenbeintürmchen, um von dort aus sich möglichst stromlinienförmig in den Literaturkanon zu schreiben. Literarisches Sprechen durfte auf keinen Fall sich der Alltagssprache bedienen, musste sich fernab davon in kühnen Metapherkonstruktionen neu erfinden.

Es war keine Atmosphäre, in der man sich als junger Autor in verschiedenen Sprechweisen ausprobieren konnte, es herrschte ein geradezu dogmatisches Meinungsdiktat darüber, was gute und was schlechte Literatur sei. Man könnte auch sagen, der Geist der Unfreiheit wehte durch die literarische Landschaft. Und Kritik an der Haltung dieses Literaturbetriebes war genauso ungern gesehen wie Schreibweisen außerhalb des vorgegebenen Stilkorridors.

Als ich dreißig war und vier Bücher veröffentlicht hatte, darunter drei Gedichtbände, wurde ich als Finalistin zum Leonce-und-Lena-Preis eingeladen. Da der Leonce-und Lena-Preis für Lyrik das ist, was der Ingeborg-Bachmann-Preis für die Prosa ist, war ich entsprechend erfreut, auch wenn ich mich wunderte, dass ausgerechnet meine politische Lyrik, die sich u.a. mit Folterskandalen im Irakkrieg beschäftigte, für das Finale ausgewählt worden war, kannte ich doch die Randbedingungen der im Enddarm des Feuilletons lebenden und sich als führend betrachtenden Literaturwelt. Dass meine Lyrik von der Jury in der Luft zerrissen wurde, kam daher nicht überraschend, wenngleich es durchaus schmerzhaft war. Meine Texte waren tatsächlich die einzigen, die sich mit der gegenwärtigen Weltbühne auseinandersetzten, während fast alle anderen Lyriker, wie vorgeschrieben, überwiegend Naturlyrik, natürlich ironisch gebrochen, oder andere eskapistische Gedichte vortrugen. Interessanterweise wurden meine Gedichte als zu privat bezeichnet, obwohl sie im Gegensatz zu den anderen Texten die waren, die sich am meisten der Welt und ihrem Geschehen zuwandten.

Es war eine einschneidende Erfahrung zu erleben, was geschieht, wenn man eine Art von Literatur produziert, die nicht geschrieben werden soll. Eine der Jury-Mitglieder, ehemalige Preisträgerin und Literaturkritikerin, ging soweit zu sagen, ich müsste mir überlegen, ob ich überhaupt noch schreiben sollte. Es war der Punkt, an dem ich begriff, dass meine bisherigen Vorstellungen der etablierten Literaturszene naiv gewesen waren. Ich hatte geglaubt, dass gute Literatur immer eine Chance hat. Und dass man es ‚geschafft hat’, wenn man bei Suhrkamp oder einem ähnlich renommierten Verlag aufgenommen wird. Nun wusste ich, welche Randbedingungen es zu erfüllen galt, und ich war nicht bereit, meine Freiheit als Schriftstellerin aufzugeben. Dass meine Literatur gut war, das wusste ich mittlerweile – ein Glück hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon genug positive Kritiken bekommen und vor allem viele begeisterte Leser.

Außerdem lernte ich durch diese Erfahrung, wie absurd es ist, von den besten Schriftstellern oder besten Künstlern zu sprechen und welche von ihnen auszuzeichnen. Es gibt viele Formen sich auszudrücken. Man kann darüber reden, ob ein Schriftsteller ein gutes Handwerkszeug hat, aber man nicht darüber urteilen, wer den ersten Platz verdient. Es sind viele verschiedene Wege, schöpferisch tätig zu werden, die alle Respekt verdienen, denn künstlerisch zu arbeiten und sich damit zu zeigen, erfordert immer Mut. Ernsthafte Literatur oder Kunst ist mehr als intellektueller Seiltanz, mehr als ein Hochglanzprodukt für eine beflissene Bildungselite – sie ist im besten Falle eine Form gelebter Spiritualität.

In den ersten Jahren meines Unterwegsseins auf dem Literaturmarkt erfuhr ich viele Desillusionierungen. Ich lernte, wie viele Verlage es in Deutschland eigentlich gibt und wie wenige davon in den Buchläden präsent sind, wie überall aussortiert wird und wie viele großartige Bücher nie einem größeren Publikum bekannt werden können. Ich lernte, wie ein Bertelsmann-Konzern einen Großteil des Belletristik-Marktes dominiert, ohne dass es den meisten Lesern auffällt, weil dies unter ganz verschiedenen Verlagsnamen geschieht, die scheinbar nichts mit Bertelsmann zu tun haben. Ich hörte auf, mich bei Literaturpreisen und um Stipendien zu bewerben, da ich meinen ganz eigenen Weg als Schriftstellerin gehen wollte, unabhängig und frei, ohne Anpassungsdruck an bestimmte Themen und Stile. Mit einem kleinen Verlag an der Seite, der mir Raum für Entwicklung gab, hatte ich das notwendige Fundament, um dies zu tun. Den von Spiegel-Bestseller-Listen dominierten Buchmarkt betrachte ich seitdem mit einer gewissen Skepsis, wissend, dass die literarischen Kleinode weit abseits zu finden sind. Und auch wissend, dass es immer schwieriger wird, diese zu entdecken angesichts all jener verschwundenen kleinen Buchhandlungen mit leidenschaftlichen Buchhändlern zugunsten großer Buchsupermärkte mit Verkäufern, die lediglich die aktuellen Bestsellerlisten kennen.

Dass die Menschen am liebsten die Bücher kaufen, auf denen jenes orangefarbene Etikett klebt: ‚Spiegelbestseller’, kann einen aufregen, aber man käme vermutlich aus dem Aufregen nicht mehr heraus. Eine Freundin und Floristin mit eigenem Laden erzählte mir vor vielen Jahren, dass die Menschen keinen eigenen Geschmack ausgebildet hätten, dass sie immer das kauften, wo drauf stehe, dass es toll sei, dass sie aber nicht erkennen könnten, was Qualität ist. Da scheint es zwischen Büchern und Blumen keinen großen Unterschied zu geben.

Gleichzeitig birgt der enorme Wandel der Verlagslandschaft und des Buchmarktes, wie er derzeit geschieht, große Chancen, denn die Möglichkeiten zu veröffentlichen und ein Buch auch im Buchhandel präsent werden zu lassen, sind so groß wie nie zuvor. Dank diverser Selfpublishing-Foren und der Internet-Vermarktung finden nun auch Bücher zu ihren Lesern, die zuvor angesichts sich als Wächter zur Welt der Leser aufführender Verlage kaum eine Chance hatten, so dass man hier von einer wirklichen Demokratisierung des Buchmarktes sprechen kann . Es braucht nicht mehr den Ritterschlag des renommierten Verlages, um gelesen zu werden. Angesichts dieser Entwicklungen sah sich auch der Verband deutscher Schriftsteller genötigt, die Klausel aus seinen Aufnahmebedingungen zu entfernen, dass Bücher vorzuweisen seien, die nicht im Eigenverlag erschienen seien.

Es ist eine Zeit, die Selbstermächtigung verlangt, die herausfordert eigene Wege zu gehen, unabhängig von alten, etablierten Strukturen. So können wir allmählich wieder vielen verschiedenen literarischen Erzählweisen begegnen und uns selbst eine Meinung bilden. Wenn die Kunst- und Literaturwelt wieder freier wird, wenn wieder viele Ausdrucksformen ihren Weg zu Betrachtern und Lesern finden, dann kann dies hoffentlich auch rückwirkend etwas dazu beitragen, dass der Meinungskorridor in unserer Gesellschaft wieder weiter wird.

Nur wenn wir wieder die Vielfältigkeit mit all ihrer Widersprüchlichkeit zulassen, wenn wir als Gesellschaft darauf verzichten darauf zu pochen, dass nur diese eine Meinung zu tolerieren sei, werden wir eine friedlichere Form der Kommunikation und des Zusammenlebens finden. Auch wenn derzeit sich die Verengung des Meinungskorridors weiter zuzuspitzen scheint, so bin ich davon überzeugt, dass letztlich die Freiheit immer mehr den Platz einnehmen wird, der ihr zusteht.