Entschuldigen Sie, ich langweile mich gerade.
Verwunderte, erstaunte Gesichter.
Langeweile? Kenne ich nicht. Langeweile ist verpönt, ja anrüchig. Ein moderner, gebildeter Mensch hat sich nicht zu langweilen.
Ich bekenne: Ich bin ein Mensch, der Langeweile kennt. Zur Genüge.
Langeweile wird oft missverstanden, ja verwechselt. Verwechselt mit Nichts-Tun.
Als wären Langeweile und Nichts-Tun synonym oder gehörten zumindest eng zusammen.
Dabei kann die größte Langeweile im Tun entstehen. Wenn man etwas machen muss, was einen nicht interessiert, was einen nicht berührt, bewegt, irgend etwas Vorgegebenes, nichts Eigenes.
Wenn man im Duden nachschlägt, was Synonyme für Langeweile seien, erscheinen Monotonie, Stumpfsinn, Antriebslosigkeit, Trostlosigkeit, Überdruss und Ödnis. Das klingt eher nach Depression als nach Langeweile.
Warum hat die lange wile so einen schlechten Ruf?
Samuel Beckett schrieb: „Unsere Zeit ist so aufregend, daß man die Menschen eigentlich nur noch mit Langeweile schockieren kann.“
Probieren Sie es aus, sagen Sie mal zu einigen Menschen, dass Sie sich langweilen. Vermutlich werden Sie irritierte, erstaunte Blicke ernten, vielleicht sogar mitleidige.
„Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele der Ennui aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die Verzweiflung.“ Das schrieb Blaise Pascal bereits im 17. Jahrhundert.
Gehören Sie zu denen, die sagen: Ich kenne keine Langeweile. Ich habe immer etwas Interessantes zu tun. Ich nutze jedes Zeitfenster, das sich auftut, sinnvoll. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen dann gratulieren oder Sie bemitleiden soll. Kann es sein, dass Sie sich etwas vormachen?
Noch nie einen langweiligen Film gesehen, ein langweiliges Buch gelesen, einen langweiligen Vortrag gehört, langweilige Gespräche geführt? Oder finden Sie es spannend, die Steuerklärung zu machen? Lesen Sie gern Details über die Fischaufzucht im 18. Jahrhundert? Haben Sie ein Faible dafür, Briefmarken zu sammeln? Dann glaube ich Ihnen, dass Ihnen nie langweilig ist.
Langeweile scheint ein Indiz dafür zu sein, dass man ein Problem hat. Denn jeder vernünftige Mensch weiß doch bitteschön, jederzeit etwas Sinnvolles mit sich anzufangen.
Ich bin professioneller Langeweile-Student. Ich habe die Langeweile intensiv studiert, zuerst in der Schule – sehr langweiliger Unterricht, uninteressant, zu langsam, trocken dargestellt und vorgegeben. Ich studierte sie an der Uni – furztrockene Pädagogikvorlesungen, langweilige Professoren in Genetik-Vorlesungen, langatmige Seminare über die Literatur der Romantik. Ich studierte sie vor allem auf Partys – für mich der beste Ort, um sich zu langweilen. Wenn die Menschen beschließen, auf den Punkt gut gelaunt zu sein und über alles reden, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Die Langeweile des small talks und der Partylaune. Das Austauschen von Belanglosigkeiten.
Die Langeweile traf ich immer dort, wo ich im Tun keinen Sinn entdecken konnte.
Und ich habe es ausprobiert, Menschen zu sagen, dass ich mich schnell langweile.
Entsetzte Gesichter – wie kann ein Mensch, der als Schriftstellerin arbeitet, literarisches Schreiben unterrichtet, mit diversen Ausbildungen in Kampfkunst und Therapie, der so viel Verschiedenes macht, so viel erlebt, sich langweilen? Menschen erklärten mir daraufhin sofort, dass sie sich nie langweilen, wie sie jede Pause sinnvoll mit neuer Lektüre füllen, Podcasts hören, eben immer gut beschäftigt sind – als sei das ein zu erreichendes Ziel.
Ich war auf ein Tabuthema gestoßen. Mal wieder. Und dieses Mal auf eines, von dem ich gar nicht erwartet hatte, dass es eines ist.
Langeweile – ein guter Begleiter auf meinem Weg. Langes Stillsitzen führt bei mir früher oder später zu Langeweile – mein Körper liebt es nicht, mehrere Stunden mehr oder weniger bewegungslos auf einem Stuhl zu sitzen. Er braucht Bewegung und findet nichts langweiliger als Herumsitzen, egal, was ich glaube, da gerade Interessantes zu hören oder zu lesen.
Und so scheint es mir, dass wir uns auf verschiedenen Ebenen langweilen können.
Körperlich, weil wir Bewegung brauchen. Seelisch, weil wir zu wenig seelische Nahrung finden. Und geistig, weil wir vergessen haben, woher wir kommen.
Urlaub kann sehr langweilig sein. Aber sagen Sie das nicht laut. Denn es ist ja die beste Zeit des Jahres. Und wer Bildungsurlaub macht, langweilt sich doch niemals, da er ununterbrochen Vorträge über die Geschichte von Sehenswürdigkeiten, historischen Bauten und Anlagen bekommt. Ein Künstler sagte einmal, er mache keinen Urlaub, er langweile sich dann zu Tode oder werde verrückt. Ich bekenne, ich verstehe ihn. Museen können richtig langweilig sein, insbesondere solche, die Geschichte konservieren. Man steht dann ausgiebig vor Glaskästen, liest Unmengen von Schautafeln und wenn man das Museum verlassen hat, hat man alles vergessen. Vielleicht ist das auch eine Form der Meditation, die ich noch nicht verstanden habe. Wer sich einmal richtig langweilen möchte, kann auch in ein Möbelhaus gehen und vierundfünfzig Modelle des mehr oder weniger selben Schrankes studieren. Oder zwölf Stunden non-stop fliegen von Frankfurt nach Los Angeles. Ich kenne Leute, die, um das ohne Langeweile zu überstehen, non-stop Kinofilme schauen, also quasi binge-watching betreiben.
Freilich, wir leben in einer Zeit, in der es als unsozial gilt, Zeit zu haben. Langeweile hat ja irgendetwas mit Zeit haben zu tun. Selbst wenn man gerade in einem Vortrag sitzt oder eine Steuererklärung erstellt, hat man noch Zeit sich zu langweilen. Weil da so kleine ungefüllte Zwischenräume sind.
Also, was spricht gegen Langeweile? Warum denken so viele, dass sie nur etwas für Kinder und für senile Menschen sei? Der kluge, gebildete Mensch langweilt sich also nie – er weiß stets, die Leer- und Freiräume zu füllen, vereitelt jeden Leerlauf, in der Langeweile entstehen könnte. Was wir alles an Zeit nutzen wollen, was wir alles verpassen könnten, was noch alles zu tun ist.
Warum also, ich wiederhole die Frage, ist die Langeweile so verpönt? Warum wird sie nicht einmal dann zugegeben, wenn sie da ist?
Dabei ist sie alles andere als ein ungesitteter oder ungehobelter Zeitgenosse. Sie tritt ein in einem eleganten, grauen Anzug, mit dunkelblauem Zylinder, immer etwas in Nebel gehüllt, als wollte sie nicht ganz erkannt werden. In ihrer Gegenwart wird die Zeit mitunter zäh, Zeitfalten entstehen, ein dumpfes Gefühl von Endlosigkeit wächst empor, verbunden mit einer ziehenden Sehnsucht.
Unterhalten Sie sich mit der Langeweile. Sie werden erstaunt und begeistert sein, was für ein geistreicher Gesprächspartner sie ist. Sie wird ihnen viele Fragen stellen, unangenehme Fragen, solche, die Sie immer vermeiden wollten. Und sie hat Geduld, sie kann schweigen, zuhören und warten. Sie hat es nie eilig. Wenn es sein muss, sitzt sie einen ganzen Tag neben Ihnen und stellt immer dieselbe Frage.
Laden Sie die Langeweile ein, statt ihr als ungebetenem Gast die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Widmen Sie ihr ganze Tage. Fahren Sie mit ihr in den Urlaub. Hören Sie der Langeweile gut zu. Das braucht aber viel Mut.
Ich gehe mich jetzt wieder langweilen. Denn nirgends kann ich mir selbst so schonungslos und direkt begegnen wie in der Langeweile.
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