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Die Sache mit den Sockeln, den Quellen und der Erhebung

Das mit den Sockeln ist so eine Sache. Und das mit den Quellen auch.

Des Menschen scheinbar ureigenstes Bedürfnis ist, sich dort zu wähnen, wo er besonders nahe am Ursprung sei, wo die wahren Vorbilder seien, wo er sich nahe der Wahrheit glaubt.

Ich fange mal mit den Quellen an. Auf vielen Lern- und Schulungswegen stieß ich auf immer dasselbe Phänomen. Im Taijiquan (Tai Chi) meinte fast jede Schule, jeder Lehrer, das authentische Taijiquan zu vermitteln, also das aus der echten und wahren Quelle. Im Taekwondo als anderer asiatischer Kampfkunst dasselbe – hier an dieser Schule wird das echte traditionelle Taekwondo unterrichtet. Und so kann man beliebig weiter schauen. Im Buddhismus schien jede buddhistische Gemeinschaft besonders nahe am ursprünglichen Buddhismus zu sein, so wie er eigentlich gemeint sei. Natürlich beschränkt sich dieses Phänomen nicht auf asiatische Wege. In der Anthroposophie traf ich die Anthroposophen, die genau wussten, was Anthroposophie eigentlich sei und wer alles nicht wisse, was sie sei, wer die falschen und die richtigen Anthroposophen seien, und natürlich, was Steiner eigentlich gemeint habe.

Mit dieser Idee, dass man im Besitz der wahren Quelle sei, ganz nahe dran am Echten und Wahren, stellt man sich selbst auf einen Sockel. Man stellt sich über all jene, die vermeintlich nicht wissen, was das Wahre und Echte sei. Denn nur man selbst hat den Schlüssel zur Erkenntnis in der Hand.

Auf der anderen Seite gibt es die Tendenz – und beides gehört direkt zusammen – andere auf einen Sockel zu stellen. Besonders gern auf den Sockel gestellt werden im Literarischen Goethe und Schiller als diejenigen Dichter, die für alle nachfolgenden Generationen an Schriftstellern als unerreichbar gelten, weil sie das vollkommene Maß an Ästhetik und Kunst verkörpern. Nichts gegen Goethe und Schiller – ich bin absolut dafür, von den Großen zu lernen, aber eben von ihnen zu lernen und nicht darin zu verharren sie anzubeten und sich damit selbst zu blockieren. In der Musik wird besonders gern Johann Sebastian Bach auf einen solchen Sockel gestellt. So hat jede Kunstrichtung, jede spirituelle Bewegung, jede Wissenschaft ihre Ikonen, zu denen man aufblickt, denen man nacheifert, in deren Anbetung man eben aber zuweilen auch erstarrt.

Viele einstmals revolutionäre Bewegungen sind daran zerbrochen, dass sie es nicht geschafft haben, einen lebendigen, freien Zugang zu ihren Quellen, Vorbildern und Idealen zu gestalten.

Damit plädiere ich nicht für eine Anbiederung an den Zeitgeist, nicht dafür, alles auf Biegen und Brechen der Gegenwart anzupassen. Ich meine damit, einen freudvollen und beweglichen Umgang mit dem zu finden, was vielleicht großartig vorangegangen ist.

Die Neigung sich auf der einen Seite groß zu machen, indem man sich selbst über andere erhebt, glaubend im Besitz der wahren Quelle zu sein, bedingt, sich auf der anderen Seite klein zu machen und etwas für unerreichbar zu erklären, indem es auf einen Sockel gestellt wird.

Wenn ich als Schriftstellerin in der Anbetung von Goethes Genius verharre, kann ich nicht schreiben, kann ich nicht selbst schöpferisch tätig werden. Als ich in der neunten Klasse meine Deutschlehrerin fragte, wann wir denn endlich Kafka lesen, sagte sie, Kafka ist so hoch, und erschuf mit ihrer Hand eine imaginäre Latte in der Luft, weit über ihrem Kopf. Was entsteht da für ein Eindruck? Am besten wage ich mich erst gar nicht daran, weil ich es sowieso nicht verstehen kann?

Ich plädiere für sockelfreie Zonen, denn erst dort kann das Individuum schöpferisch tätig werden. Erst dann kann es beginnen zu gestalten. Sockel sind nämlich auch enorm praktisch – man kann davor stehen bleiben und sich gar nicht erst auf den Weg machen, weil das Ziel sowieso unerreichbar ist. Aber erreichen können wir nur das, was wir für erreichbar halten.

Ich habe viele Buddhisten getroffen, die die Erleuchtung, also die Überwindung allen Leidens, in ferne Inkarnationen verlagerten, überzeugt davon, dass es ein für dieses Leben unerreichbares Ziel sei. Damit kann man es sich sehr einfach machen, zu einfach. Denn, was man sowieso nicht erreichen kann, braucht man gar nicht anstreben.

Es braucht etwas mehr Demut, um von der fixen Idee der wahren Quelle loszulassen, erkennend, dass wir als Menschen uns ständig irren können, auf Irrwegen unterwegs sein können, auch und gerade wenn wir so überzeugt sind, die Wahrheit zu kennen. Und es braucht etwas mehr Mut, um auf all die Sockel zu verzichten, mit denen wir uns so gern umgeben. Dabei brauchen wir gar nicht bis Goethe oder Schiller zu gehen - jeder, der einen etwas ungewöhnlichen Beruf hat, wie Schriftsteller oder Komponist oder Priester, kennt es, wie man von den Mitmenschen allzu gern auf einen Sockel befördert wird. Man wird zu einer grandiosen Projektionsfläche für all die Träume und Sehnsüchte, für das Unerreichte. Umso größer ist dann die Fallhöhe, wenn die Menschen erkennen, dass der Mensch dort auf dem Sockel auch nur ein Mensch mit allen Fehlern und Schwächen ist. Da wandte sich schon mancher wütend von seinem versockelten Ideal ab, das plötzlich nicht mehr den eigenen Erwartungen genügte. Goethe, so genial er dichtete und forschte, war er ein furchtbarer Vater, unter dem sein einziger Sohn lebenslang litt, pflegte einen äußerst fragwürdigen Umgang mit Frauen. Denn er war ein Mensch.

Wenn wir auf die wahren Quellen und die großen Sockel verzichten, nähern wir uns vielleicht etwas mehr unserer wahren Größe an.

 

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