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Die Brutalität des Materialismus – Teil 2

Wenn Menschen einen Angehörigen plötzlich und unerwartet verlieren, wenn Menschen Gewalt und Folter erleben, wenn Menschen extreme Schmerzen aushalten müssen – es gibt viele Situationen, die uns Menschen an Grenzen führen, die uns am Sinn des Lebens zweifeln lassen, die es schwierig machen weiterzuleben. Es sind Grenzerfahrungen, in denen wir bestenfalls liebevolle Begleitung haben und in denen wir schlimmstenfalls damit allein sind.

Menschen brauchen Trost und sie suchen einen Sinn. Wir sind Sinnsucher, wir wollen verstehen, warum uns etwas widerfährt. Wenn wir das Geschehene in einen größeren Zusammenhang stellen können, wenn wir erleben können, dass auch die schlimmsten Erfahrungen einen tieferen Sinn bergen können, dann können wir diese in unsere Biographie einordnen und damit Frieden finden.

So sind immer wieder aus persönlich schlimmen Erfahrungen neue Impulse, neue Initiativen entstanden. Menschen, die aktiv mit ihren Verlust- und Grenzerfahrungen umgehen, statt sie zu verdrängen oder abzuspalten, können eine große Kraft entwickeln, aus denen neue Projekte entstehen können, und sie können Wegweiser für andere werden, die Ähnliches erlebt haben.

Wenn jemand tief verzweifelt am Abgrund des eigenen Lebens steht – was bietet der Materialist dann an? Was kann er geben, um den seelischen Schmerz zu mildern? Was kann er sagen, um zu trösten? Nichts.

Materialismus ist eine zutiefst nihilistische Haltung – und ist auf diese Weise auch eine misanthropische Haltung.

Ich selbst erlebte in meiner Jugend, was es bedeutet angesichts des Todes eines geliebten Menschen einen Materialisten an der Seite zu haben. ‚Mit dem Tod ist alles vorbei. Das musst du akzeptieren. Oder willst du etwa an einen Gott glauben und so einen Quatsch? Das ist nur etwas für Schwächlinge.’

Wenn man angesichts eines Verlustes eines Menschen seelisch dünnhäutig und offen ist, sind solche Sätze brutal. Auch wenn man sie nicht glaubt und weiß, dass es anders ist. Statt eines warmen Gehaltenseins schlägt einem zynische Kälte entgegen.

Ich arbeitete später viel mit schwertraumatisierten Menschen. Soll man einem Menschen, dem Folter widerfahren ist, sagen: Das ist eben so, ist aber nur Kohlenstoffchemie...?

Der Materialismus ist ein Abgrund – er beruft sich gern auf Wissenschaftlichkeit und Vernunft – tatsächlich lässt er Menschen in seinen Abgrund hineinfallen.

Dass in unserem Zeitalter des Materialismus der Tod so weit aus der Mitte unserer Gesellschaft hinausgeschoben worden ist, dass Sterben fast immer steril in Krankenhäusern stattfindet und nicht mehr zu Hause, dass die wenigsten Erwachsenen einen Leichnam gesehen haben, führt dazu, dass die Begegnung mit der heiligen Schwelle des Todes immer unmöglicher wird. Gerade in einem Sterbeprozess, im Herannahen des Todes öffnet sich das Fenster zur geistigen Welt und wir können mehr als sonst diese wahrnehmen. Aber dies soll in einer materialistischen Welt nicht stattfinden, in der Sterben und Tod sich darauf beschränken, eine Leiche den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend zu entsorgen, vielleicht noch mit ein paar Ritualen verbunden, die aber wenig mit dem zu tun haben, was tatsächlich in diesen Momenten geschieht.

Für den Materialisten sind Verstorbene fort, weg. Da bleibt nichts als ein gähnender Abgrund. Nur ein materialistisches Zeitalter kann auf die Idee kommen, den Hirntod als Kriterium zu definieren als Zeitpunkt der Organentnahme für die Transplantation.

Wie wenig wissen die meisten heute darüber, was kurz vor dem Tod und nach dem Tod geschieht, wie eine Seele sich aus dem Körper löst, welche Begleitung sie braucht, welche Begleitung das Umfeld des Verstorbenen braucht, wie man den Verstorbenen sanft in die geistige Welt geleiten kann und wie wichtig es ist, in Kontakt mit dem Verstorbenen zu sein.

Bei der Geburt, der anderen heiligen Schwelle, sind sich die meisten darüber einig, dass es gute Begleiter, also Hebammen, braucht, die den Prozess des Geboren-Werdens kennen. Das Gebären wurde allerdings immer mehr zu einer Art Krankheit erklärt und muss in Krankenhäusern stattfinden, wo die Wahrnehmung und Empfindung der werdenden Mütter weniger zählt als der medizinische Goldstandard. Kinder kommen immer weniger auf natürliche Weise zur Welt, die Zahl der Kaiserschnitte nimmt seit Jahren rasant zu.

Dass wir auch Hebammen des Todes brauchen, scheint vielen weniger geläufig.

Sterbebegleiter, die wissen, worauf es ankommt, wenn ein Mensch sich auf die Reise macht in die geistige Welt, die die Herausforderungen kennen, die den Verstorbenen unter völlig anderen Bedingungen erwarten. Sakramentale Handlungen für Sterbende sind nicht als schöner Brauch misszuverstehen, sondern sie sind konkrete Hilfe, eben wie eine Geburtshilfe.

Wir müssen uns dem Sterben und dem Tod wieder annehmen, statt sie uns von vermeintlichen Experten aus der Hand nehmen zu lassen. Wenn wir wieder erfahren, wieviel Würde und Schönheit den Tod umgibt, dann werden wir wieder mehr Mensch. Und wir können den Einflüsterungen der Materialisten widerstehen, die uns weismachen wollen, dass wir nur eine Ansammlung von Kohlenstoffatomen sind, die sich eine Zeit lang durch etwas bewegt, was man Leben nennt, um dann endgültig zu verschwinden.

Die Erfahrung vieler Menschen des Getrennt-Seins, des Unverbunden-Seins und die daraus erwachsenden Probleme wie Depressionen und andere psychische Erkrankungen resultieren auch daraus, dass wir verlernt haben, mit den heiligen Schwellen des Lebens umzugehen.

Aber wir haben die Chance uns diese Bereiche zurückzuerobern, wenn wir den Mut haben uns einzulassen auf die verwandelnde Wirkung dieser Schwellen, wenn wir bereit sind uns dem zu stellen, wovor wir am meisten Angst haben.

Dann nähern wir uns als Wesen der Freiheit unserer eigentlichen Bestimmung wieder an.

 

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