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Die Couch des Pauschalurteils

Wir machen es uns gemütlich auf der Couch unserer Pauschalurteile. Sie ist etwas durchgesessen, freilich, aber wir sitzen da ja auch schon lange und wissen, was uns erwartet. Von dort aus betrachten wir die Welt, aus einem sicheren Abstand – nicht, dass sie uns noch zu nahe kommt – und freuen uns über jede Bestätigung unseres Weltbildes, also zumindest die meisten unter uns.

Krisenzeiten wie diese mit dem Corona-Phänomen und dem Ukraine-Krieg scheinen einmal mehr dazu einzuladen, etwas intensiver auf dieser Couch zu verweilen. Und da war es wieder, dieses ‚Hab ich es doch gleich gewusst’ oder das ‚War ja nichts anderes zu erwarten’, das uns behaglich noch etwas tiefer in das Sofa hineinsinken lässt.

Zugegeben, ich bin erstaunt, wie viele Hellseher es doch in dieser Zeit zu geben scheint, und dass diese Branche wider Erwarten so überaus floriert. Das sind jene Zeitgenossen, die so ganz genau wissen, wie es weitergeht, die alles erwartet haben, die die geheime Agenda schon lange kennen und so manchem suggerieren wollen, es gebe nur diesen einen Weg in die Zukunft. Und der ist finster allemal.

Die Couch der Pauschalurteile hüllt sich gern in apokalyptische Finsternis. Und sie umgibt sich gern mit einem Hauch von Resignation und Fatalismus.

Und da sitzen wir also und sinnieren über die schwarzweiße Welt da draußen, erklären Fronten und Gräben zwischen uns, halten uns für unversöhnlich und nehmen jede vorüberwehende schlechte Nachricht mit einem resignativen Kopfnicken auf, ja, die Welt ist schlecht, die Aussichten sind schlecht, und wir eben mitten drinnen, ach nein, auf unserer Couch.

Natürlich mag man an dieser Weltlage verzweifeln, angesichts eines gesellschaftlichen und politischen Long-Covid-Syndroms, angesichts eines sinnlosen Mordens in einem ebenso sinnlosen Krieg verbunden mit der Gefahr einer atomaren Eskalation, angesichts immer weiter steigender Energiekosten und noch vielem mehr.

Wir scheinen uns zu wundern, wie wir nur in diese Lage kommen konnten. Dabei scheint uns entgangen zu sein, dass wir uns schon längst im Vorspiel befanden. Denn wir leben schon seit geraumer Zeit in einem Zeitalter des Materialismus, der alle Vorgänge und Phänomene dieser Welt auf Materie und deren Gesetze und Verhältnisse zurückführt.

Besonders deutlich zeigte sich dies in den letzten zwei Jahren, als das erklärte Ziel aller Politiker, Virologen und sonstiger sogenannter Experten es war, menschliche Leben zu retten, womit sie aber meinten, die physischen Körper der Menschen mit allen Mitteln vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus zu bewahren, was in all den bekannten menschenunwürdigen Maßnahmen gipfelte, eben bis dahin, dass man sog. vulnerable Gruppen für Monate in Isolationshaft wegsperrte, völlig ignorierend, dass es Menschen sind, die fühlen und leiden. In gnadenlos anmutender Kurzsichtigkeit wurden wir Menschen in kürzester Zeit zu einer vor Ansteckung zu schützenden, verfügbaren Masse degradiert.

Die dadurch empfundene Ohnmacht, Wut und Verzweiflung schien es noch notwendiger zu machen, das alteingesessene Sofa der Pauschalurteile aufzusuchen.

Von allen Seiten wurde mit solchen Urteilen geworfen, vom Covidioten bis zum Schlafschaf. Wer auf dem Sofa der Pauschalurteile sitzt, kennt keine Abstufungen mehr, lässt keine Ambivalenzen mehr zu.

Dem Materialismus, der alles Seelisch-Geistige negieren möchte, wohnt der Reduktionismus inne. Dieser beherrscht einen Großteil des gegenwärtigen modernen naturwissenschaftlichen Denkens, das davon ausgeht, dass ein System vollständig durch seine Teile bestimmt wird und aus diesen rational und deterministisch erklärt werden kann. So wie Goethe in seinem Faust Mephisto spöttisch sprechen lässt: „Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben/ Sucht erst den Geist heraus zu treiben /Dann hat er die Teile in seiner Hand/ Fehlt leider! nur das geistige Band.“

Wenn man sich die gegenwärtigen Diskussionen anschaut, sei es von Kritikern oder Befürwortern der Corona-Maßnahmen, so merkt man, dass all jene, die sich für so unterschiedlich halten, doch alle gefangen sind in einem materialistischen und damit reduktionistischen Denken. Wer glaubt, anhand derzeitig zu beobachtender Phänomene auf eine dahinter stehende Agenda schließen zu können, die früher oder später zwangsläufig in Kraft treten wird, ist genauso in eben diesem Denken gefangen wie jemand, der versucht, anhand von Simulationsversuchen am Computer den Verlauf einer Pandemie vorauszusagen.

Und so könnte man die gegenwärtige Tragödie auch als Komödie verstehen, in der alle im materialistischen Boote sitzen und doch glauben, sie wären mit ganz anderen Gefährten auf ganz anderen Meeren unterwegs.

Daher sollten wir sitzend auf unserer Couch des undifferenzierten und verurteilenden Denkens einfach mal herzhaft lachen, über uns selbst. Wie wir da glauben, die Wahrheit zu kennen, wie wir da munter vor uns hin verurteilen, andere Menschen in Schubladen stecken und hastig diese zuschieben, wenn sie dann doch mal nicht ganz so hineinpassen. Dieses Lachen könnte den Weg ebnen dahin zu erkennen, dass wir selber alle einen Lauterbach, einen Putin, einen Konformisten und einen Querdenker und noch so einiges andere in uns haben.

 

 

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