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Das verirrte Unwohlsein

In letzter Zeit häufen sich Meldungen, dass Veranstaltungen abgebrochen oder abgesagt werden, weil weiße Musiker Rastafrisuren oder afrikanische Gewänder tragen. Begründung: Unwohlsein. Menschen hätten Unwohlsein mit der Situation geäußert. Der Ravensburger Verlag hat gerade das Buch ‚Der junge Winnetou’ aus dem Programm genommen, weil sich Menschen dadurch in ihren Gefühlen verletzt fühlten. Ganze Abteilungen arbeiten mittlerweile dafür, potentiell verletzende Inhalte aufzuspüren und entfernen zu lassen. Wer auf die Biologie der zwei Geschlechter hinweist, erntet shitstorms. An einer britischen Universität will man Platon und Aristoteles aus dem Lehrplan streichen, um die Vorherrschaft des weißen Mannes zu brechen. Und Kinder dürfen sich nicht mehr als Indianer verkleiden, weil das kulturelle Aneignung sei und damit per se die Gefühle anderer verletze.

Niemand will mit nichts niemanden mehr verletzen. Das neue Credo der Cancel-Culture-Aktivisten. Die Idee Unwohlsein und Verletzung um jeden Preis vermeiden zu wollen, ist infantil. Denn Schmerzen, Verletztwerden und Unwohlsein gehören zum Leben dazu, und es geht darum mit ihnen umzugehen, nicht sie abzuschaffen. Sie sind Katalysator für Entwicklung. Wir können uns als Menschen nicht entwickeln, wenn wir permanent in schönster Harmonie leben. Wir brauchen Reibung, Auseinandersetzung, um innerlich zu wachsen.

Hinter dieser Ideologie, sich zum jedem Zeitpunkt einhundert Prozent korrekt verhalten zu sollen, (wobei hier unter korrekt verstanden wird, auf keinen Fall Unwohlsein in irgendeinem, wenn auch fiktiven Gegenüber auszulösen), steht dieselbe verquere Vorstellung, die sich in der Corona-Krise ausgebreitet hat, nämlich dass man Krankheit abschaffen muss, indem man sie mit Masken aussperrt, mit Lockdowns vermeidet, mit Impfungen wegspritzt. Und wir brauchen eben Krankheiten - sie helfen uns, uns seelisch und geistig zu entwickeln.

Niemand soll sich also unwohl fühlen. Ich stehe staunend vor diesen Schlagzeilen und reibe mir die Augen. Hatten wir nicht gerade die Corona-Krise, in der es so völlig verdammt egal war, ob Menschen sich unwohl fühlten, die wahrlich mehr Grund dazu hatten, als solche, die bei einem Konzert weiße Musiker mit Rastafrisuren ertragen müssen? War es in den letzten zweieinhalb Jahren nicht völlig egal, dass Menschen in Alten- und Pflegeheimen vereinsamt sterben mussten, dass Menschen ihre schwerkranken Angehörigen im Krankenhaus nicht mehr besuchen durften, dass ungeimpfte Menschen kollektiv gemobbt wurden, dass Menschen, die keine Masken tragen können, als asoziale Schweine beschimpft wurden, dass man sich impfen lassen musste, weil man sonst seinen Job verlor oder nicht mehr seine Eltern im Altenheim besuchen durfte, dass Kinder Suizid begingen, weil sie nicht mehr mit der Einsamkeit durch die monatelangen Lockdowns klar kamen, dass häusliche Gewalt in dieser Zeit massiv zunahm?

Leiden wir nun unter kollektivem impfbasierten Gedächtsnisschwund?

Diese Menschen hatten allen Grund sich ‚unwohl’ zu fühlen, sie fühlten Verzweiflung, Ohnmacht, Trauer, Angst, Wut. Hat man deshalb die Maßnahmen abgeschafft? Hat man deshalb eine Impfkampagne gestoppt?

Ach, nein, da hatten wir es ja mit der Alternativlosigkeit zu tun.

Staunend sehe ich von einer Seite zur anderen.

Hier eine Diskussion um Gendersternchen und Rastalocken und ein Vermeiden-Wollen von schlechten Gefühlen um jeden Preis, dort das billigende In-Kauf-Nehmen von Unmenschlichkeit bis hin zu Gewalt.

Und dieselbe Presse berichtet beides, als gebe es keinerlei Diskrepanzen, berichtet fleißig darüber, warum man von nun alle Bücher aus dem Verkehr ziehen muss, die irgendwie irgendwelche von irgendjemandem Gefühle verletzen könnten, nachdem sie zuvor dazu aufgerufen hat, alle Ungeimpften aus dieser Gesellschaft auszugrenzen und alle Andersdenkenden eifrig mit übelsten Schmähreden überzog.

Donnerwetter. Das muss man erst einmal hinbekommen. Es erinnert ein wenig an die Doppelleben von Tätern, die in der einen Zeit ein idyllisches Familienleben führen und zur anderen Zeit bestialische Morde begehen.

Vielleicht gehört das ja auch zusammen. Vielleicht brauchen wir ja als Gesellschaft nun, nachdem wir uns im Rahmen der Corona-Krise tief in faschistoide Denk- und Verhaltensweisen begeben haben, nun eine idyllische Pseudo-Diskussion über verletzte Gefühle wegen falscher Frisuren.

Vor allem aber müssen wir nun einmal anfangen uns ernsthaft Gedanken zu machen darüber, wie wir eigentlich zusammen leben wollen!

Wollen wir ernsthaft um jeden Preis vermeiden, dass sich irgendjemand unwohl fühlt? Wollen wir in einer pseudo-harmonischen Scheinwelt leben, in der man nur noch auf die Füße schaut, damit diese nicht versehentlich einem anderen auf dieselben treten?

Das Gefühl eines Unwohlseins wird derzeit als Rechtfertigung für Zensur missbraucht, um eine bestimmte ideologische Linie durchzusetzen.

Begegnen wir stattdessen dem Schmerz, der Auseinandersetzung, dem Konflikt mit offenen Armen, wissend, dass eine Geschichte ohne einen Konflikt keine lesbare Geschichte ist, dass alle Entwicklungen durch Reibung, Schmerz und Widerstand entstehen. Besinnen wir uns wieder auf unser Mensch-Sein mit all seinen Höhen und Tiefen, mit all seinem Schmerz und Glück. Lassen wir uns nicht verblenden.

Lasst uns Mensch bleiben - oder wieder werden!

 

 

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