· 

Trojan-SMS.AndroidOS.futureisnow.f

„Das geht nicht“, sagte ich. „Das Experiment ist missglückt.“

Ich hoffte, dass Johnny mich hörte. Es knackte in meinem Ohr. Ich hoffte auch, dass die Technik funktionierte, sonst hatte ich ein Problem. Ein richtiges Problem.

Ich kam mir vor wie in einem Science-Fiction-Roman. Vielleicht war es ja auch einer.
„Johnny, hörst du mich?“ Es knackte wieder. Endlich seine Stimme.

„Hi, Francis“, es knackte, „die Verbindung ist schwierig. Du kannst jetzt nicht schlappmachen. Bleib, wo du bist.“ Noch ein Knacken, und ich hörte gar nichts mehr.

Es war einer dieser Momente, in dem man nichts anderes als Scheiße denken kann. Einfach Scheiße. Warum hatte ich mich bloß auf diese hirnrissige Idee eingelassen? Weil ich geglaubt hatte, dass sie sowieso nicht funktioniert? Und nun saß ich hier im Jahr 2090 und Francis erklärte mir aus dem Jahr 1990 heraus, dass ich nicht schlappmachen solle. Großartig. Ich war nicht in einer großartigen Zukunft gelandet, in der tolle Erfindungen dabei halfen, das Leben menschenwürdiger zu gestalten – so wie Johnny gemeint hatte – sondern im Irrenhaus. Ich musste hier weg, und zwar sofort.

Ich verwünschte all die Diskussionen, die ich mit Johnny geführt hatte, wir beiden Freaks, die erforschten, wie man sich in die Zukunft beamen könnte. Und nicht einfach aus Spaß, sondern um nachzuschauen, ob wir aus der Geschichte lernen würden, gerade hier in diesem Land, in dem wir soeben eine 41 Jahre dauernde Diktatur beendet hatten. Nicht dass wir in ein paar Jahrzehnten denselben Mist bauen, hatte Johnny gesagt, der Erfinder, der Techniker, der Denker.

Nun saß ich hier, 2090, in einem Kasten mit künstlicher Luft, den man früher wahrscheinlich mal Kirche genannt hatte. Vorsichtig sah ich mich um. In meiner Panik hatte ich bisher kaum etwas wahrgenommen. Die Reise durch 100 Jahre schien mich etwas mitgenommen zu haben, zumal ich ja nicht gealtert war.

Links und rechts neben mir saßen Menschen, die alle ihre Gesichter verhüllt hatten. Auf unseren Demos war Verhüllung immer verboten gewesen. Sie trugen eine Art medizinischer Maske, die ich nur von Ärzten kannte, und sie sahen alle gleich aus. Sie hatten etwas Uniformes, das mir Angst machte. Ich hatte natürlich nicht so eine Gesichtsbedeckung dabei, aber man hatte mir sofort eine in die Hand gedrückt, als ich hier ankam.

Alle sahen regungslos geradeaus. Dorthin, wo früher der Altar gewesen war. Wo das Kreuz, wo Jesus gewesen war. Da hing nun ein riesiges Muster, eine quadratische Matrix aus schwarzen und weißen Quadraten. In drei Ecken war eine Markierung, in der vierten nicht. Die Menschen murmelten etwas vor sich hin. Ich versuchte vergeblich, es zu verstehen. Es wurde nicht gesungen. Mir war eiskalt, obwohl der Raum vermutlich gut temperiert war. Beteten sie wirklich diesen Code da vorne an?

„Wo sind wir hier?“ Ich wagte es, meine Sitznachbarin zur Linken anzusprechen, die mindestens 1,5 Meter von mir entfernt saß. Irgendwie saßen hier alle in diesem Abstand, als wollten sie sich nicht zu nahe kommen. Die Frau sah mich über ihre Maske hinweg mit wütenden Augen an und machte eine Handbewegung in meine Richtung, als wollte sie eine Fliege verscheuchen. Okay, ich störte. War ja auch etwas seltsam, wenn jemand plötzlich fragte, wo man denn wäre.

Hauptsache, ich kam wieder zurück. Johnny hatte mir versprochen, dass das natürlich klappen würde. Ich musste irgendjemanden hier kennenlernen, um etwas zu erfahren, falls überhaupt jemand mit mir reden würde. Ich bekam kaum Luft unter dieser Gesichtsbedeckung. Offenbar war es verboten, Mund und Nase zu zeigen. Vielleicht war ich einfach nur in eine besonders irre Sekte mit Hygienezwang geraten.

Ich beschloss zu warten. Alles war weiß gestrichen. Da vorne dieser riesige Code, den alle unentwegt anstarrten, als hätte sie jemand hypnotisiert. Es roch nach Desinfektionsmittel. Meine Blase drohte demnächst zu platzen. Ich konnte mich zwar quer durch die Jahrzehnte beamen, aber meine physiologischen Bedürfnisse blieben dieselben. Hoffentlich konnte man hier noch mit Bargeld bezahlen, ich konnte es mir kaum vorstellen. Vorsichtig stand ich auf und verließ meinen Platz, sehr zum Ärger der umsitzenden Menschen – wenn es denn noch Menschen waren. Durch die gespenstisch anmutenden Reihen verhüllter Gestalten, die alle schwiegen und starrten, schlich ich zum Ausgang.

Da stand jemand an einem Postkartenstand, die Gesichtsbedeckung verrutscht unters Kinn. Er grinste mich an.

Ich fragte leise: „Gibt es hier ein Klo?“

Er wies um die Ecke, Treppe hinunter. Nachdem ich mich erleichtert hatte und die Treppen wieder hinaufgestiegen war, fragte ich ihn: „Wo bin ich denn hier? Ich bin fremd, per Zufall hier gelandet.“

„ZMO“, sagte er und fuhr sich durch seine ungekämmten Haare.

„ZM – was?“

„ZMO – Zentrum für menschliche Optimierung.“

Ich nickte, als würde ich irgend etwas verstehen.

„Hat irgendwie etwas von einer Kirche“, sagte ich, „aber ist etwas gruselig.“

Er verkniff sich ein Lachen. „Naja, seit man die Kirchen verboten hat, gibt es halt die ZMOs. Ist schon schräg. Ich mache hier auch nur den Job, um etwas Geld zu verdienen. Du musst aber lange woanders gelebt haben.“

Er sah mich neugierig an. Ich sah mich selbst an. Ja, meine Klamotten waren wohl etwas anders, als was man heute hier trug. „Ja, ja, lange verreist war ich.“

Dann fragte ich ihn: „Was hängt denn da vorn? Was starren die Leute denn die ganze Zeit an?“

„Ach, du meinst den QR-Code – du hast echt keine Ahnung, was – in so etwas kann man Informationen verschlüsseln. Musst mal nachts aus dem Fenster schauen. Neulich haben hier 1500 Drohnen einen riesigen QR-Code in den Himmel gezeichnet. Werbung von Big Alphabet.“

Wenn Johnny hier wäre, der könnte mit seinem Superhirn diese Dinger wahrscheinlich sofort knacken.

„Und was ist in diesem Code hier verschlüsselt?“

„Die Gesinnungstexte. Vaterunser und so, das gibt es ja alles nicht mehr. Religion geht gar nicht. Aber irgendwie will man die Leute bei der Stange halten. Es gibt neue Texte: Wir sind solidarisch. Wir halten zusammen. Der Staat sorgt für uns. Wir verzichten zugunsten des großen Ganzen…. Naja, all so ein Kram. Wenn du mich fragst, purer bullshit, aber das darf man nicht laut sagen. Kritik üben ist seit Corona krass verboten – dann bist du Nazi oder Verschwörungstheoretiker.“

Mir wurde mulmig. Das war keine Sekte. Ich war mitten in einer deutschen Großstadt in 2090. Und es schien eine neue Form von Totalitarismus etabliert worden zu sein.

„Corona?“ fragte ich.

„Ey, sag mal, hast du dein Gedächtnis verloren oder was?“

„Sorry, und wenn es so wäre?“

„Du machst dich lustig über mich, oder? Oder bist du einer dieser Bots?“

„Was?“

„Nee, so doof wie du guckst, nein. – Corona – das war so eine Pandemie, ab 2020, da fing der ganze Kram an, das mit dem Gesicht bedecken, mit Abstand, mit Virentrara. Das wurde übelst benutzt, um alles Mögliche durchzudrücken. Man hat es zu spät gemerkt.“

Ein lautes elektronisches Signal ertönte, das mir durch Mark und Bein fuhr.

Entsetzt sah ich den Postkartenverkäufer an: „Was ist das?“

„Die neue Kirchenglocke“, er grinste wieder. „Muss jetzt meinen Job hier machen. Bisschen analoges Trara in einer digitalisierten Welt, verstehst du. Postkarten sind halt chic, so retro.“ Er wandte sich ab.

Schnell verließ ich den weißen Kasten mit der künstlichen Luft.

Es knackte in meinem Ohr. „Francis?“

Noch nie hatte mich so gefreut, Johnnys Stimme zu hören. „Du, das ist völlig irre… ich…“

Johnny unterbrach mich. „Ich habe herausgefunden, dass man in der Zeit, wo du jetzt bist, mit QR-Codes arbeitet. Mit Micro-QR-Codes, Secure-QR-Codes , der iQR-Codes und Frame-QR-Codes. Bitte fotografiere jeden Code, den du siehst. Besonders die, die wichtig scheinen. Dort sind die Infos enthalten, die wir brauchen, um die Zukunft zu verändern. Wir haben wenig Zeit zu reden. Erzähl mir alles später. Behalte die Nerven. Ich hole dich in vier Stunden zurück, sonst ist es zu spät.“

Es knackte wieder. Mir war heiß, dann kalt. Ich musste wieder in den weißen Kasten gehen und irgendwie dieses Ding fotografieren. Ob das überhaupt erlaubt war?

Ich würde es schaffen. Schnell aß ich etwas aus meinem Rucksack, ein Glück hatte ich mir etwas zu essen mitgenommen. Hier durfte kein Zwischenfall passieren, kein Unfall, kein Kreislaufzusammenbruch, sonst würde ich in dieser Zukunft feststecken.

Schnell setzte ich die Gesichtsbedeckung auf und steckte meinen kleinen Fotoapparat in die Hosentasche.

Ich ging gegen den Strom der Menschen, die mir entgegenkamen. Ihre starren Augen erschreckten mich immer noch, ließen mir kalte Schauer den Rücken hinunterlaufen. Der Postkartenmann sah mich und grinste. Ich nuschelte im Vorübergehen: „Hab etwas vergessen.“

Während alle hinausgingen, ging ich hinein. Ich setzte mich auf denselben Platz wie vorhin und hoffte, dass mich keiner beobachtete.
Diese Zukunft musste verhindert werden.

 

 

© all rights by gyde callesen

Jede Vervielfältigung, ob analog oder digital, ist verboten.