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Kampfkunst als Weg Frieden zu schaffen

Es ist eine in verschiedenen Zitaten immer wieder auftauchende Weisheit, dass wir, wenn wir Frieden in der Welt wünschen, zuerst Frieden in uns selbst schaffen müssen. Das sind große Worte und die Frage ist, wie dies gelingen kann. Wie schafft man Frieden in dem eigenen Inneren? Und in seinem nächsten Umkreis?

Vielleicht erliegen manche der Illusion, dass sie bereits Frieden in sich hätten, während andere meinen, wenn sie Giraffensprache statt Wolfssprache nutzen, sei alles erledigt.

In der traditionellen Kampfkunst projiziert man den eigenen inneren Kampf nach Außen, so dass er sichtbar werden kann. (Es sei bemerkt: Kampfkunst ist etwas anderes als Kampfsport. Kampfsport stellt das Siegen in den Mittelpunkt, Kampfkunst ist ein Weg der Selbstentwicklung.) Man kann sozusagen dem eigenen inneren Kampf zusehen. Denn was wir gar nicht bewusst erleben, können wir auch nicht verändern. Ich selber praktiziere seit 2003 asiatische Kampfkünste und habe auf diesem Weg sehr viel darüber gelernt, was Kämpfen wirklich bedeutet.

In den asiatischen Kampfkünsten, wenn man sie mit Ernsthaftigkeit und längere Zeit betreibt, begegnet man vor allem sich selbst, auch wenn man mit anderen kämpft. Am Anfang lernt man erst einmal grundlegende Techniken des stabilen Stehens, des Angriffs und der Verteidigung, lernt es sich zu fokussieren, auszuweichen und seine Kraft bewusst einzusetzen. Erst wenn man diese Grundlagen beherrscht, beginnt man mit anderen zu kämpfen. Dabei gibt es sowohl ritualisierte Schrittkämpfe mit vorgegebenen Bewegungsabfolgen als auch den freien Kampf mit leichtem Kontakt oder Vollkontakt.

In der Kampfkunst findet man einen sehr klaren Rahmen für etwas, was sonst oft irgendwie und unbewusst abläuft. Im normalen Leben kämpfen wir, ohne es zu merken, machen Menschen zu Gegnern, ohne es uns bewusst zu machen, und richten unsere schärfsten Angriffe gegen uns selbst.

Ein Kampf im Karate oder Taekwondo folgt strengen Regeln. Höflichkeit ist dabei eine der wichtigsten Tugenden. Das heißt, dass man sich vor seinem Gegner vor und nach dem Kampf verbeugt. Es ist ein klarer Rahmen, in dem man seine Fähigkeiten und Grenzen erproben kann.

Wer das erste Mal in einem solchen Rahmen kämpft, begegnet sich auf sehr unangenehme Weise selbst. Denn in diesem äußeren Kampf zeigen sich alle typischen Merkmale der eigenen Persönlichkeit. Geht man voll drauf nach dem Motto Angriff ist die beste Verteidigung oder wartet man ab, taktiert, um dann gezielt einen Tritt zu machen? Jeder, der das erste Mal kämpft, begegnet der eigenen Angst, der eigenen Wut und dem Schmerz. Denn jeder hat Angst vor einem solchen Kampf, weil man nicht weiß, ob man seine Fähigkeiten einsetzen kann, wie der andere sich verhält, was passieren wird.

Und bei jedem weiteren Kampf werden einen die Angst, die Wut und der Schmerz immer wieder einholen. Wenn man es nicht schafft, Angriffe effektiv abzuwehren, merkt man dies körperlich entsprechend schnell: Es tut weh. Dann wird man vielleicht wütend, auf sich selbst und den Gegner, und man beginnt aus der Wut heraus zu kämpfen. Doch wer aus der Wut heraus kämpft, kämpft blindwütig - und hat keine Chance. Es ist ein Weg für jeden Kampfkünstler zu lernen, sich im Kampf weder von der Wut noch von der Angst leiten zu lassen.

Wenn man weiß, dass der Gegner erfahrener ist, dass er bestimmte Tritte sehr gut beherrscht, dann hat man natürlich Angst. Doch wie geht man mit dieser Angst um? Verwandelt man sie in Wut? Oder lässt man sich von ihr lähmen? Oder nimmt man sie wahr, aber schafft es, sie beiseite zu stellen, um dann mit Weitsicht und Klugheit den Kampf zu bestehen?

Viele denken, Kampfkunst, oh nein, bloß nicht, das ist nur Gewalt, das ist nur etwas für krasse Leute, die irgendwie ihre Aggressionen loswerden wollen. Abgesehen davon, dass Kampfkunst immer wieder mit Kampfsport verwechselt wird, ist diese Annahme viel zu kurz gegriffen. Natürlich ist man in der Kampfkunst auch mit Schmerzen durch Verletzungen konfrontiert, aber durch den sehr klaren Rahmen und die Bedeutung von Respekt und Höflichkeit, werden hier nicht Grenzen gegen den Willen eines anderen überschritten wie im Falle von Gewalt.

Kampfkunst ist ein sehr direkter Weg zu lernen. Im normalen Leben kann man immer wieder über die eigenen Grenzen gehen, ziemlich lange, bis es irgendwann tatsächlich nicht mehr geht. Körper und Seele werden sich wehren, erst zaghaft, dann deutlicher, aber es kann ein langer Prozess sein, an dessen Ende vielleicht ein Burnout oder etwas anderes steht.

In der Kampfkunst merkt man die eigenen Grenzen im Training sehr deutlich und sehr schnell. Wenn man einen Tritt zu hoch tritt, weil man glaubt so dehnbar zu sein, dann spürt man es sofort. Es tut weh. Erst ein bisschen und dann ziemlich heftig.

Kampfkunst ist ein Weg ohne Umwege, ein kompromissloser Weg. Man ist sofort mit dem konfrontiert, dem man lieber ausweichen würde. Mit der eigenen Arroganz, dem eigenen Übermut, der eigenen Verzagtheit.

Für Selbstüberschätzung zahlt man sofort den Tribut – mit schmerzhaften Muskelfaserrissen, mit Prellungen und so weiter. Das mag für manche etwas martialisch klingen, ist jedoch ohne Wertung nur direkt.

In der Kampfkunst geht es anders, als im Kampfsport darum, das eigene Ego kennenzulernen, also das kleine Ich, das oft von Ehrgeiz, Arroganz, Gier und ähnlichem getrieben wird, um dann irgendwann bewusster damit umgehen zu können. Dabei entsprechen die verschiedenen farbigen Gürtel Treppenstufen. Vom weißen Gürtel am Anfang, der für Reinheit und Offenheit steht, folgen als Schülergrade gelbe, grüne, blaue und braune Gürtel, bis mit dem ersten schwarzen Gürtel die Dan-Grade folgen, die oft sogenannten Meistergrade. Doch je höher die Grade werden, desto größer werden auch die Verlockungen des Ego. Stolz und Arroganz tauchen bei nicht wenigen Schülern auf, die den ersten Schwarzgürtel erreichen. Dabei ist mit dem ersten schwarzen Gürtel gar nichts erreicht. Denn mit dem ersten Schwarzgürtel geht es wieder von vorne los, vom 1. Dan bis zum theoretisch 9. Dan, wobei letzterer im Taekwondo zum Beispiel nur noch ehrenhalber verliehen wird und es praktisch die meisten nicht weiter bis zum 4. oder 5. Dan schaffen.
Wie gehe ich mit einem Angriff klug um? Auszuweichen will gelernt sein. Angriffe parieren ebenfalls.
Weiche Kampfkünste wie Aikido oder Taijiquan nutzen die Energie des Gegners - denn ein Angriff ist erst einmal nichts anderes als Energie, die auf einen zukommt - und wenden diese entweder gegen den Gegner selbst, so dass diesen sein Angriff direkt selber trifft, oder leiten die Energie einfach vorbei an sich selbst. Das ist ein sehr eleganter und kluger Weg, denn dabei verschwendet man weder die eigenen Kräfte noch verletzt man sich.

Zurück zum Ausgangspunkt. Wie kann ich Frieden in mir selber schaffen? Indem ich mir den Kampf, der in mir tobt, erst einmal bewusst mache. Die meisten Menschen werten sich permanent selbst ab, sind in destruktiven Gedankenmustern und Gefühlsspiralen gefangen, haben hochaktive innere Kritiker und Antreiber.

Kampfkunst kann ein Weg sein, um sich dieses Kampfes bewusst zu werden und sich damit selber zu entwickeln.

Oft wollen Menschen ihre unangenehmen Gefühle schnell beiseite schaffen, doch wenn wir diese gar nicht kennengelernt haben, wird es mit dem Beiseite-Schaffen schwierig. In unserer schnelllebigen Zeit, die mit einem Klick scheinbar Antworten auf alles hat, können die in der Kampfkunst geförderten Tugenden wie Ausdauer, Geduld und Respekt von Hilfe sein. Angesichts des derzeitigen Krieges in der Ukraine sollte sich jeder, der sich ernsthaft Frieden wünscht, darüber Gedanken machen, wie es mit dem Frieden in sich selber aussieht.

Vermutlich wäre diese Welt, wenn jeder Mensch erst einmal in sich selber aufräumt, eine andere.

Das höchste Ziel der Kampfkunst ist, nicht mehr kämpfen zu müssen.

Doch um dorthin zu gelangen, muss man erst das Kämpfen lernen, viele Kämpfe bestehen und verstehen, was es wirklich bedeutet, die Waffen niederzulegen.

 

 

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