„Mit einer Doppelmoral hat man nur halb so viele Gewissensbisse“ – so lautet ein bekanntes Zitat des Schriftstellers Ernst Ferstl.
Das gleiche Verhalten unterschiedlich zu bewerten, je nachdem welche Personengruppe es ausführt, ohne dass es dafür einen sachlichen Grund gäbe, hat derzeit Hochkonjunktur. Wir leben in Zeiten von guten und schlechten Demonstrationen, damit auch von guten und schlechten Demonstranten, von guten und schlechten Flüchtlingen, von guten und schlechten Diktaturen.
Wenn man als Schriftstellerin über diese Doppelmoral schreibt, läuft man Gefahr, selbstverständlich, moralisch niedergekeult zu werden, denn zu versuchen, eine vermittelnde Position einzunehmen, ‚nicht auf der richtigen Seite zu stehen’, sich nicht in Schwarz oder Weiß zu bewegen, ist in diesen Zeiten ein Affront gegen all diejenigen, die so genau wissen, was die Wahrheit ist und daher auch, wer gut und wer böse ist. Ich tue es trotzdem.
Als Kritiker der Corona-Maßnahmen sich zu Demonstrationen versammelten und keine Masken trugen und keine Abstände einhielten, weil genau dies Teil des Protestes war, haben sich Politiker und Medien und die Mehrheitsgesellschaft alle Mühe gegeben zu verbreiten, dass es sich hier ausnahmslos um üble Gefährder unserer Gesellschaft handele, die auf Superspreader-Events rücksichtslos ein Virus verbreiten, in völliger Ignoranz dessen, dass es sich in der Mehrheit um Menschen handelte, die sich noch Gedanken um unser Grundgesetz machen.
Als wenige Wochen später eine Black-Lives-Matter-Demonstration stattfand, teilweise ohne Masken und überwiegend ohne Abstand, feierten die Politiker und Medien diese Veranstaltung als großartiges Zeichen und korrigierten die Teilnehmerzahlen medial ordentlich nach oben, während sie bei den unerwünschten Demonstrationen ordentlich nach unten korrigiert wurden.
Wenn man allein diese Tatsache beschreibt, so wie sie ist, dann wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit, nur als Schreibender darüber, sehr schnell als rechts oder anders beschimpft werden. Das ist interessant: Man kann Dinge nicht mehr benennen, nebeneinander stellen, die Dissonanz wirken lassen, ohne selber beschimpft zu werden. Allein dies zeigt die beschworene Alternativlosigkeit unserer Zeit: Es gibt nur eine richtige Sicht, bist du nicht für mich, bist du gegen mich – eine Sichtweise, die viele bei einem Präsidenten Trump noch als psychopathisch und schwer gestört bezeichneten.
Es gibt keine Kompromisse mehr, es gibt keinen Debattenraum mehr, es gibt nur noch Härte – dies zog sich durch die Corona-Krise und zeigt sich jetzt auch im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine.
Offenbar gibt es gute und schlechte Flüchtlinge. Flüchtlinge aus afrikanischen und arabischen Staaten lässt man massenweise im Mittelmeer ertrinken, ohne mit der Wimper zu zucken, lässt sie unter unmenschlichen Bedingungen in Flüchtlingslagern ausharren und macht ihnen eine Einreise in EU-Staaten so schwer als möglich. Bürgerkriege und Hungersnot in Afrika und auf der arabischen Halbinsel scheinen nur wenige hier zu interessieren.
Um es deutlich zu machen – alle Kriege sind schlimm, allen Flüchtlingen sollte geholfen werden.
Aber wieso geht man hierzulande mit Flüchtlingen aus der Ukraine anders um als mit Flüchtlingen aus anderen Ländern? Warum halten die Medien ihre Kameras so sehr auf die eine Krise und ignorieren
alle anderen Krisenherde?
Es gibt offenbar gute und schlechte Diktaturen. Russland gehört nun offensichtlich zu den schlechten Diktaturen (mit dieser Aussage beschönige ich nicht, was derzeit passiert!) und Katar auf einmal zu den guten Diktaturen. Katar lässt Menschen hinrichten, führt erbarmungslose Kriege gegen Nachbarstaaten und lässt Frauen, die vergewaltigt werden, einsperren, ist also das Gegenteil von einem demokratischen Staat, der Menschenrechte achtet. Vor Katar macht man einen Hofknicks, Russland als Kooperationspartner ist komplett undiskutabel.
Wir haben es hier augenscheinlich mit Doppelstandards einer bilateralen Menschenrechtspolitik zu tun, die eine Kooperation mit anderen Staaten an die Einhaltung von Menschenrechten binden will, aber diese Bindung dann ziemlich inkonsequent anwendet, weil andere Interessenslagen höher eingestuft werden.
Es ist erstaunlich, wie große Teile der Bevölkerung diese Doppelmoral beklatschen und ihr selber begeistert folgen. Man hat keine Probleme die ganze Zeit darüber zu reden, wie wichtig es ist, Menschen aufgrund ihres Andersseins nicht zu diskriminieren, und zeitgleich andersdenkende Menschen wie Ungeimpfte oder Maßnahmenkritiker wüst zu beschimpfen oder sich zu weigern, mit ungeimpften Familienmitgliedern Weihnachten zu feiern. Man geht auf queere Demos, geht aber auf Menschen los, die wegen einer Vorerkrankung keine Maske tragen können. Man hängt sich Ukraine-Fahnen ins Fenster oder setzt sie in das Profilbild in den sozialen Medien, aber würde sich niemals mit einer Fahne aus Äthiopien oder Mosambik präsentieren. 2019 wurden insgesamt 27 Kriege und bewaffnete Konflikte in der Welt geführt, Afrika war am stärksten betroffen. Wer hat sich weitergehend für die meisten dieser Kriege interessiert, abgesehen von den zwei Minuten während des täglichen Nachrichtenkonsums?
Wir leben auch in einer Zeit der Parolen und Slogans – denn diese sind besonders geeignet, den Menschen eine vermeintliche Alternativlosigkeit ins Hirn zu treiben. Der neueste Slogan ist: Frieren für die Freiheit. Erfunden in einer Twitterblase und für die Verfasser und Befürworter weit jenseits ihrer eigenen Lebenswirklichkeit. Wer sich selbst sicher sein kann, immer genug essen kaufen, genug heizen und tanken zu können, egal wie sehr die Preise steigen, weil er sein gut gesättigtes Bankkonto kennt, aber so etwas schreibt, hat eine doppelte Moral. Es ist jene, die man in derzeit bei vielen besser gestellten Grünen-Wählern findet, die in der Corona-Zeit immer härtere Maßnahmen forderten, wie Ausgangssperren und andere strikte Verbote, die sie selber aber gar nicht tangierten, da sie in ihren geräumigen Eigentumswohnungen und Einfamilienhäusern ein beschauliches Lockdown-Leben führten und die Entschleunigung zelebrieren konnten. Menschen bekommen es hin, in der einen Woche auf eine Klima-Demo zu gehen und in der nächsten auf die Malediven zu fliegen. Unter psychologischen Gesichtspunkten ist das sicher sehr interessant, wie man solch eine kognitive Dissonanz bewältigen kann.
Solidarität ist das Sinnbild für Doppelmoral geworden – es gibt eine ‚richtige’ und eine ‚falsche’ Solidarität. In Corona-Zeiten ist es richtig, solidarisch mit sog. Corona-Toten zu sein, aber falsch, Solidarität mit Impf-Opfern zu zeigen. Es soll solidarisch sein, alle Maßnahmen gut zu heißen, auch wenn sie im schlimmsten Fall unmenschlich und menschenverachtend sind, aber es ist falsch, seine Solidarität für die Lockdown-Opfer auszusprechen. Solidarität wird hier zu einem Propaganda-Instrument und ad absurdum geführt.
Ganz vorne dabei in Sachen Doppelmoral sind auch viele Kirchen und spirituelle Gemeinschaften. Wie kann man die Lehre eines Jesus oder Buddha verkünden und zugleich Menschen aus dem Gottesdienst, aus der spirituellen Praxis ausschließen, die aus bestimmten Gründen nicht geimpft sind und damit einer aus infektiologischer Sicht sehr fragwürdigen 2G-Regel nicht entsprechen?
Wie kriegt man das hin? Man muss ziemlich biegsam sein. Oder gar kein Gewissen mehr haben. Oder dumm sein. Oder alles zusammen.
Es ist die Doppelmoral, die alle spüren und wahrnehmen, die einen untergründigen Misston verursacht, die viele Beziehungen zerbrechen lässt, die aber nicht angesprochen werden darf. Eine solche Scheinheiligkeit, eine solche Bigotterie, ist immer eine Lüge. Man belügt sich selbst und andere. Man misst mit zweierlei Maß. Und fühlt sich dabei noch moralisch überlegen. Erst wenn es gelingt, aus diesem durch ein reduktionistisches Denken angefeuerten Teufelskreislauf der Doppelmoral auszusteigen, wenn wir aufhören permanent uns selbst und andere zu belügen - dann gibt es eine Chance auf Frieden, in uns und in der Welt.
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