Fliegentod

Langsam ging ich den langen grauen Gang entlang, dessen Türen mich wie blinde Augen anstarrten, bis ich vor dem Zimmer 118 stand, Herr Taubermann.

Ich ließ mich auf dem Plastikstuhl davor nieder und wartete.

Die große weiße Uhr tickte aufdringlich. Es roch nach Bohnerwachs und altem Papier.

Während ich in meinen Jackentaschen nach dem Notizzettel kramte, ich hatte mir extra etwas aufgeschrieben, öffnete sich die Tür.

„Herr Fabrizius?“

Der Notizzettel war weg, so ein Mist. „Ja, das bin ich.“ Ich bemühte mich, schnell aufzustehen und möglichst freundlich zu lächeln.

Herr Taubermann trug ein graues Sakko und ein weißes Hemd. Ein spärlicher Haarkranz bedeckte seinen Kopf. Seine Augen verrieten mir, dass er nicht zu Späßen aufgelegt war.

Ich betrat das Zimmer, er deutete auf einen Stuhl.

Wo war der Notizzettel? Naja, ich würde es auch so hinbekommen.

Ein Schweißtropfen perlte an meinem Rücken herunter. Ich lehnte mich vorsichtig an.

„Das ist Frau Seitling“, Herr Taubermann stellte die Dame vor, die neben ihm mir gegenüber saß. „Sie ist Beisitzerin, wir führen diese Gespräche nie unter vier Augen.“

Sie nickte kurz. Auch sie lächelte nicht und drehte einen silbernen Kugelschreiber zwischen ihren Fingern hin und her. In ihrer lachsfarbenen Stehkragenbluse und mit ihren straff hochgesteckten Haaren erinnerte sie mich an meine Grundschullehrerin.

Herr Taubermann setzte sich ebenfalls.

Ich versuchte immer noch zu lächeln.

„Kommen wir direkt zur Sache, Herr Fabrizius. Sie wollen sich nicht impfen lassen?“

Ich sah auf Herrn Taubermanns braune Schuhspitzen und sagte: „Nein.“

Herr Taubermann verschränkte die Arme. „Sie wissen, was wir davon halten?“

Es stand ja wöchentlich im Firmen-Newsletter, dachte ich. Wer sich nicht impfen lässt, ist unsolidarisch und hat mit Konsequenzen zu rechnen.

Ich entschied mich zu nicken und nichts weiter zu sagen.

Eine Schmeißfliege stieß immer wieder gegen das Fenster. Der Weg hinaus, scheinbar offensichtlich und doch versperrt.

„Herr Fabrizius, haben Sie Gründe?“

Herr Taubermann sah mich durchdringend an, Frau Seitling machte eifrig Notizen.

Kriegsdienstverweigerer, fuhr es mir durch den Kopf. Das muss ähnlich gewesen sein. Ich lief hier nun unter Impfverweigerer. Die Zeiten hatten sich geändert, hatte ich geglaubt. Ich nickte wieder.

„Könnten Sie uns diese bitte ausführen, so dass wir prüfen können, ob sie triftig sind?“

Ablehnung des Impfangebotes nur mit triftigen Gründen, so stand es auf der Firmen-Webseite.

Das erste Mal sah ich Herrn Taubermann direkt in die Augen.

„Ich denke nicht.“

Frau Seitling sah kurz auf, blinzelte und schrieb weiter. Protokoll eines Verhörs.

Ich arbeitete seit zwanzig Jahren in leitender Position hier, verdiente genug Geld, um meine Familie zu ernähren, die Kreditraten abzuzahlen und einmal im Jahr in den Urlaub zu fahren. Anna war krank. Wir brauchten mein Geld.

Herr Taubermann zog die Augenbrauen zusammen. „Herr Fabrizius, wir müssen Ihre Gründe kennen, um Ihre Ablehnung des Impfangebotes akzeptieren zu können. Wir gehen davon aus, dass Sie dabei helfen wollen, die Pandemie einzudämmen und zur Herdenimmunität beizutragen.“

Die Schmeißfliege donnerte immer noch gegen das Fenster.

Anna wartete zu Hause auf mich, sie hatte Angst, dass ich alles in den Sand setzen würde.

„Herr Fabrizius?“

Ich sah statt der Schmeißfliege wieder Herrn Taubermann an.

„Sind Sie krank? Haben Sie Vorerkrankungen, die diese notwendige Impfung verunmöglichen?“

Bisher war meine Krankengeschichte meinen Arbeitgeber nichts angegangen.

„Herr Taubermann“, ich versuchte es nun auch einmal mit der Masche mit dem Nachnamen, „meine Krankengeschichte geht Sie, soweit ich informiert bin, nichts an. Das war bisher so, und ich gehe davon aus, dass das so bleibt.“

Frau Seitling zog unruhig ihren Rock gerade.

Herr Taubermann lehnte sich etwas vor: „Wir haben einen Ausnahmezustand, Herr Fabrizius. Sie wissen das. Und in diesem Ausnahmezustand ist alles anders.“

Seine Stimme war leicht drohend.

Ich versuchte Haltung zu bewahren.

„Ich habe triftige Gründe mich nicht impfen zu lassen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.“

Frau Seitling kritzelte schneller.

Die Schmeißfliege krachte erneut gegen das Fenster und fiel auf die Fensterbank.

Herr Taubermann stand auf.

„Wenn Sie die Auskunft verweigern, was so scheint, haben Sie mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen zu rechnen.“

„Ich tue nichts Verbotenes.“ Ich stand auch auf. Frau Seitling nestelte nervös an ihrem Blusenstehkragen.

„Herr Fabrizius, ich schätze Sie sehr, als langjährigen und sehr zuverlässigen Mitarbeiter in diesem Unternehmen…..“

Ich fiel ihm ins Wort: „Daher gehe ich davon aus, dass Sie daran interessiert sind, dass ich meine Aufgaben hier weiter wahrnehmen kann.“

Herr Taubermann räusperte sich.

„Impfverweigerer als Gefährder der Gemeinschaft haben hier keinen Platz.“

Seine Stimme wurde lauter, seine Halsschlagader trat leicht hervor.

„Ich bin kein Impfverweigerer. Ich habe triftige Gründe.“

„…. die Sie nicht nennen wollen. Solange Sie diese nicht nennen und zur Prüfung freigeben, gelten Sie als Verweigerer. Sie sind fristlos entlassen.“

Mir wurde heiß, dann kalt. Die Schmeißfliege rührte sich nicht mehr.

Mir ratterten die Artikel des Grundgesetzes durch den Kopf. Ich hatte sie in den letzten zwei Jahren auswendig gelernt.

„Sie können gehen. Bitte verlassen Sie das Firmengelände umgehend, damit Sie nicht noch andere Mitarbeiter anstecken.“

Ich war gesund, ich wollte nur nicht etwas tun, wovon ich nicht überzeugt war. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

„Sollten Sie es sich noch einmal überlegen, können Sie jederzeit zu unserem Betriebsarzt gehen. Er ist vorbereitet.“

Herr Taubermann reichte mir einen Brief, ging zum Schreibtisch, klappte einen Ordner zu und verließ den Raum. Frau Seitling stand ebenfalls auf und folgte ihm.

Die Schmeißfliege zuckte noch einmal.

Ich stand auf, nahm die Fliege an den Flügeln, öffnete das Fenster und warf sie hinaus. Sollte sie zumindest in Freiheit sterben.