Die Corona-Krise sollte die KünstlerInnen auf den Plan rufen – könnte man denken.
In der größten Krise nach Ende des Zweiten Weltkrieges, in der Kultur und Kunst eben einmal für irrelevant erklärt und all ihre Institutionen geschlossen werden sowie den KünstlerInnen ein Berufsverbot erteilt wird, sollte es einen Aufschrei geben.
Es gibt ihn nicht.
KünstlerInnen und Kulturschaffende gelten von jeher als Menschen, die politischen Systemen eher kritisch gegenüberstehen (sollten), die sich in ihren Werken mit Themen der Gegenwart auseinandersetzen (könnten) und damit Reflexionsräume für Publikum und Rezipienten schaffen (würden).
Das bedeutet nicht, dass sich Kunst- und Literaturschaffende immer und zu jeder Zeit gesellschafts- und systemkritisch geäußert hätten – bekanntlich gibt es jene Epochen wie beispielsweise die Zeitspanne des Biedermeier, in denen die Flucht ins Idyll und Private angestrebt wurde.
„Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“
Günter Eich schrieb diese Zeilen im Jahr 1950. In Zeiten, als Schlagworte wie ‚Trümmerliteratur’ und ‚Kahlschlag’ Versuche darstellten, das nicht nur in der literarischen Welt entstandene Vakuum nach dem Zweiten Weltkrieg zu beschreiben.
Was folgt, ist ein Jahrzehnt deutscher Literatur, das vor allem durch literaturgeschichtliche Kontinuität gekennzeichnet ist. Den Naturlyrikern, welche die Gedichtlandschaft der 50er Jahre prägen, wird der Vorwurf des Wirklichkeitsverlustes gemacht, der Wirklichkeitsabwehr und des Rückzuges aus einer abgelehnten Realität. Gegen eine solche Art von Lyrik, in der die Unmenschlichkeit und Grausamkeit der faschistischen Vernichtungslager nicht als poetologischer Schock eingegangen ist, hatte sich Theodor W. Adorno mit seinen oft missverstandenen Worten gewandt, dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, barbarisch sei.
Um zu verstehen, warum heute angesichts der Rodung der Kulturlandschaft ein Großteil der KünstlerInnen schweigt, muss man die Entwicklung der Literatur- und Kunstszene in den letzten zwanzig Jahren betrachten.
Seit der Jahrtausendwende erfährt in der Literatur Naturlyrik einen Boom, sie wird gefördert durch Vergabe wichtiger Preise und Stipendien an entsprechende AutorInnen. Politische, gesellschaftskritische Geister haben seit mindestens zwei Jahrzehnten keine Chance auf die großen Auszeichnungen. Es ist eine Generation, die in den sprachlichen Spuren eines Paul Celan wandert, dessen späte Gedichte zu einer vollkommenen Vergegenwärtigung immanenter sprachlicher Bezüge und Verweisungszusammenhänge tendieren. Im Gegensatz zu seiner frühen Lyrik, zu der u.a. die bekannte ‚Todesfuge’ zählt, muss dieses poetische Sich-Abschließen gegenüber einer andrängenden Wirklichkeit sowohl als poetologische als auch als existentielle Konsequenz des Lyrikers Paul Celan begriffen werden.
Doch mit welcher Legitimation bewegt sich die junge lyrische Generation zu Beginn eines neuen Jahrtausends in derart hermetischen Eigenwelten?
Ein geradezu krampfhafter Avantgardismus bezüglich der Form scheint von den meisten Gegenwartslyrikern dieser Generation Besitz ergriffen zu haben. Klammern, Sonderzeichen, überdimensionierte Enjambements, unzählige Neologismen häufen sich, potenzieren sich. Man versucht formal zu beeindrucken, wenn schon der Inhalt keine Rolle mehr spielt.
Literatur und Politik, so kann man in einschlägigen Lexika der deutschen Literaturgeschichte nachlesen, waren nie soweit voneinander entfernt wie in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Man wird in den Nachschlagewerken der Zukunft korrigieren bzw. hinzufügen müssen: ‚Literatur und Politik, gesellschaftliche Wirklichkeit und Lyrik, hatten um die Jahrtausendwende und zu Beginn des 21. Jahrhunderts nahezu keine Berührungspunkte. Dies erinnert an die 50er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts.’
Die eskapistischen Naturlyriker von heute sind die Generation der in den 70er und frühen 80er Jahren geborenen Autoren, die abgesehen von wenigen Ausnahmen vor allem durch eines bestechen: durch ihre Standpunktlosigkeit, ihre ‚Meinungs-Freiheit’, ihre Anpassungsfähigkeit an einen immer restriktiver agierenden Literaturbetrieb. Es sind Absolventen des gesamtdeutschen Leipziger Literaturinstituts, wo Talente hoffähig gemacht werden, und Sprösslinge einer Medien- und Konsumgesellschaft. Jene, für die ein vereinigtes Deutschland normal ist, für die das Surfen im world wide web ebenso alltäglich ist wie die täglichen Nachrichten von Selbstmordattentaten und der ständigen Gefahr terroristischer Anschläge. Kinder einer Zeit, die dazu tendiert, der Sicherheit den Vorzug vor der Freiheit zu geben, in der Anti-Utopien vom totalitären Überwachungsstaat in der Tradition von Orwell und Huxley bedrohliche Aktualität gewinnen.
Und plötzlich kam Corona.
Es ist nicht unbedingt eine Zeit, um sich bequem zurückzulehnen und sich auf den Konsum zu beschränken oder das Blühen der Herbstzeitlosen lyrisch darzustellen– zumindest wenn man es irgendwie ernst meint mit dem Schreiben. Eine Meinung zu haben, muss wieder geübt werden. Dies war in den letzten zwanzig Jahren nicht In. Wer eine Meinung hatte und diese auch noch vertrat, galt schnell als einer von diesen hoffnungslos Gestrigen, die von der Realität immer noch nicht eines besseren belehrt worden sind. Stellung zu beziehen, sich angreifbar zu machen und damit Verantwortung zu übernehmen für seine Worte, wurde vermieden. Während die Lyrik heute in pseudo-avantgardistisch verpackten Naturgedichten vor sich hindümpelt, wird die junge Prosa von einem sog. vom Leipziger Literaturinstitut exportierten lakonischen Realismus bestimmt, einer entemotionalisierten Darstellungsweise, die sich insbesondere durch eines auszeichnet: Neutralität.
Oft scheint das Anliegen der jungen Autorengeneration mehr darin zu bestehen, sich möglichst schnell und stromlinienförmig in den Kanon der Literaturgeschichte zu schreiben, als einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Es ist jenes Phänomen, das man einer ganzen Studentengeneration vorwirft. Dieses pflicht- und karrierebewusste Sich-Raushalten und Erfüllen von Erwartungen und Strukturen. Die Umstrukturierungen an den Hochschulen, die zu mehr Leistungskontrolle und Verschulung der Studiengänge führten, haben diese Entwicklung verstärkt.
Als die sog. Pandemie wenige Wochen alt war, hörte man schon die ersten Stimmen in den deutschen Feuilletons – Aufforderungen von Verlegern und Zeitungsredakteuren: Bitte keine Corona-Romane!
Als Schriftstellerin muss mich solch ein Satz mit Abscheu und Wut erfüllen - als Künstlerin lasse ich mir nicht vorschreiben, weder von Verlagen noch von der Presse, was und worüber ich schreibe. Doch viele meiner KollegInnen scheinen solche Aufrufe normal zu finden und folgen ihnen. Sie schreiben weiter, als gebe es keine Pandemie, als würden die Grundrechte gerade nicht monatelang aushebelt sein, als würden endlose Lockdown-Schleifen nicht gerade zahllose Existenzen vernichten, als würde unsere Demokratie nicht in Gefahr sein. Man macht sich nicht die Hände schmutzig. Man reibt sich nicht an der Gegenwart. Man ergreift keine Partei. Und wenn es dann doch zum guten Ton gehören sollte, ein oder zwei Corona-Gedichte zu schreiben, auch wenn man vorher nie politisch geschrieben und einen das auch nicht interessiert hat, dann macht man das, denn es könnte karrierefördernd sein.
Und so scheint die Mehrheit der Kunst- und Kulturschaffenden es gar nicht befremdlich zu finden, wenn sie nun monatelang, vielleicht jahrelang, irrelevant sind – vielleicht haben sie es ja schon immer geahnt und nehmen dies nun als Bestätigung ihrer dunkelsten Befürchtungen.
Corona birgt eben auch viele Chancen, ohne damit das endlose Leid ausblenden zu wollen: Die gegenwärtige Krise birgt die Chance einer Politisierung der Kunst und Literatur. Einer neuen Form von Auseinandersetzung mit der Gegenwart und damit das Ende einer Epoche sich ewig selbst bespiegelnder Individuen inmitten einer gutbürgerlichen Bildungsblase.