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Unser täglicher Sündenbock

Wir leben in Zeiten, in denen Meinungen zu Fakten und Fakten zu Meinungen werden. Wir leben in Zeiten, in denen irgend etwas sofort zu tun besser ist, als abzuwarten, zu verstehen und dann klug zu handeln. Und wir leben in Zeiten, in denen wir Sündenböcke brauchen. Dafür, dass es nicht funktioniert – dass die Infektionszahlen nicht heruntergehen, dass sie immer wieder steigen, dass wir Corona nicht in den Griff bekommen. Sündenböcke als Projektionsflächen braucht man, wenn Wut und Ohnmacht wachsen und wenn gleichzeitig die Ungewissheit groß ist.

Es scheint schwer zu sein, sowohl für die Politik als auch für die Bevölkerung, dass wir ziemlich wenig wissen über einen Virus namens Corona. Und wenn wir einiges wissen, wie beispielsweise, dass harte Lockdowns nichts bringen, außer das Problem auf morgen zu verschieben, um dann wieder an derselben Stelle zu stehen, dann machen wir immer wieder dasselbe, weil das Schlimmste zu sein scheint, gar nichts zu machen, wie Bundestagspräsident Schäuble vor wenigen Tagen sagte. Das ist eine Bankrotterklärung der Politik: Wir wissen viel zu wenig, aber wir erlassen Maßnahmen, von denen wir wissen, dass sie unendliches Leid verursachen, nur damit wir etwas tun und als entscheidungsfreudige Politiker angesehen werden können.

Und dafür dass es alles nicht so klappt, wie man es sich wünscht, braucht man Sündenböcke. Das waren in Corona-Zeiten schon feiernde Großfamilien, das sind seit neuestem die Glühweintrinker, das sind die Maskenverweigerer und natürlich die Querdenker. Wobei Querdenker zum Synonym geworden ist für jeden Menschen, der es wagt kritisch selber zu denken, anstatt dem staatlich verordneten Denken einfach hinterher zu marschieren.

An den vermeintlichen Sündenböcken entladen sich die gesamte Wut und der Hass in besorgniserregenden Formen. So dröhnt es durch das Netz: Wer es wagt für die Grundrechte auf die Straße zu gehen, müsse unterschreiben, dass er im Fall einer schweren Corona-Erkrankung auf eine Behandlung verzichte. Bis hin zu hasserfüllten Wünschen, dass der Querdenker elendig an Corona verrecken möge.

Corona reißt die Masken herunter. Alles, was vordem hinter geschmeidigen Fassaden gut versteckt war, wird nun sichtbar. Der Abgrund des Menschlichen tut sich auf. Um die eigene Wut und Ohnmacht zu kompensieren, kreuzigt man die Sündenböcke. Ohne Rücksicht auf Verluste – gleichgültig, wen es dann trifft. Gleichgültig, ob dann ein wegen einer Erkrankung von der Maskenpflicht befreiter Menschen diese Wut dann völlig zu Unrecht abbekommt. Gleichgültig, ob es ein Mensch ist, der für seine Grundrechte demonstriert, ohne gleich ein Rechtsradikaler oder Verschwörungstheoretiker zu sein. Gib uns unseren täglichen Sündenbock.

 Es wäre ehrlicher und mutiger sich selber zu reflektieren, welches Gebräu aus mächtigen Gefühlen im eigenen Inneren gärt. In Zeiten wie diesen ist es völlig verständlich, wenn Wut, Ohnmacht, Angst und Verzweiflung sich abwechseln oder wechselseitig verstärken. Doch statt diese unheilvolle Mixtur auf eine Projektionsfläche namens Mensch zu entladen, wäre Selbstreflexion ein Weg dahin, die auch durch mediale Panikmache immer größer werdende Spaltung der Gesellschaft zu überwinden.

Was wäre, wenn dieser Virus ganz andere Infektionswege hat als bisher angenommen? Was wäre, wenn all die ergriffenen Maßnahmen sich im Nachhinein als falsch oder sogar verstärkend herausstellen? Was wäre, wenn man irgendwann einsieht, dass ein Inzidenzwert nicht geeignet ist, um daraus Grundrechtseinschränkungen abzuleiten? Wenn irgendwann klar werden würde, dass PCR-Tests nicht für den Nachweis von Infektionen taugen – wie bereits jetzt von vielen Wissenschaftlern gebetsmühlenartig betont wird?

In Zeiten wie diesen sind absolute Standpunkte nicht nur gefährlich, sondern dumm.

Und noch gefährlicher und noch dümmer ist es, den Hass auf Menschen zu schüren, die vermeintlich Infektionstreiber sind und die gegen das gesellschaftliche Narrativ verstoßen.

Jeder von uns sollte dazu beitragen, dass Toleranz und Meinungsfreiheit in diesem Land wieder Werte sind, die zu pflegen es sich lohnt. Ansonsten wird nicht ein Virus, sondern werden wir selbst mit unserer Ignoranz und unserer Dummheit unsere Gesellschaft zerstört haben.