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Corona-Splitter - literarische Sichtachsen

„Ab Montag kannst du nicht mehr zur Schule gehen“, meine Mutter schnitt eine Scheibe Brot ab. Sie roch nach Alkohol, schon jetzt. Es würde kein guter Tag werden. Ich blinzelte, nahm mir die Erdbeermarmelade und versuchte den Deckel aufzudrehen. Meine Hände zitterten.

 „Wegen Corona. Sind jetzt alle Schulen zu“, sagte sie und setzte sich an den Tisch.

Ich nickte, als wüsste ich es schon.

„Für wie lange?“ fragte ich leise.

„Keine Ahnung.“

Ich starrte das Bild mit dem gelben Blumenstrauß an der Wand an. Zuhause bleiben, den ganzen Tag.

„Dann kannst du für mich einkaufen gehen“, sagte sie.

Wieder nickte ich.

Für wie lange, dachte ich. Ich dachte diese Frage immer wieder.

Und er, würde er dann auch zu Hause sein, den ganzen Tag?

„Freddy hat ab nächster Woche Kurzarbeit. Ist dann auch da.“

Als hätte sie meine Gedanken erraten. Meine Hände zitterten noch ein bisschen mehr. Ich versteckte sie unter dem Tisch.

Den ganzen Tag zu Hause. Ab vier Uhr würde sie auf dem Sofa liegen und man könnte nicht mehr mit ihr reden. Und er würde dann kommen und sagen: Komm, mein Kleines, wir machen jetzt mal was Schönes.

 Mir blieb ein Stück Brot fast im Hals stecken.

„Ist doch schön“, sagte sie, „sind wir mal alle beisammen.“

Ich nickte. Reden konnte ich nicht mehr.

Die Schule war mein einzig sicherer Ort gewesen.

 

 

Es war ein Dienstagnachmittag. Der Anruf erreichte mich auf der Arbeit.

Ich fuhr sofort los. „Ihr Lebensgefährte hat einen Unfall gehabt.“

Als ich das Krankenhaus betrat und nach ihm fragen wollte, stellte sich mir Security-Personal in den Weg.
„Sie dürfen hier nicht rein.“

Ich starrte den breitschultrigen Mann mit dem Mundschutz, der sich bei jedem Atemzug aufblähte, an.
„Mein Mann hatte einen schweren Unfall. Ich muss zu ihm.“

Der Mann stellte sich noch etwas breiter vor mich. „Sie dürfen hier nicht rein. Sie schleppen Viren ein. Wir haben Corona.“

Meine Ohren begannen zu sausen, mir wurde heiß. Ich würde ihm am liebsten seinen dummen Mundschutz abreißen. Mir war egal, ob wir Corona hatten. Ich wollte zu Marvin, sofort.

Eine Krankenschwester kam heran und mischte sich ein. „Sie wollen jemanden besuchen?“

Ich riss mir mein Halstuch ab und sagte: „Ja, es ist wohl mein Recht, meinen Mann zu sehen und ihm beizustehen.“

Sie blickte mich entschuldigend an. „Leider dürfen Sie das nicht. Wir haben diese Vorgabe.“

„Wie? Niemand darf hier seine Angehörigen besuchen?“

„Ja. Es gibt Ausnahmen für Kinder, für Gebärende und für Sterbende.“

Mein Brustkorb schnürte sich zu, alles begann sich zu drehen.

„Er muss sterben, damit ich ihn sehen darf?“ stotterte ich.

Die Krankenschwester umklammerte ihr Klemmbrett. „Naja, es muss ja nicht gleich das Schlimmste passieren. Geht es Ihnen gut?“

„Klar, sicher.“ Ich bekam kaum noch Luft, drehte mich um und ging. Vorgaben. Corona. Marvin.
Ich setzte mich auf eine Bank vor dem Krankenhaus.

 

 

Ich legte meine Hand auf die kühle Fensterscheibe. April 2020. Deutschland.

Morgen war mein 96. Geburtstag. Und ich saß hier fest. Wegen der Pandemie.

15 Quadratmeter auf unbestimmte Zeit. Ich hatte schon viel erlebt. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war ich fünfzehn Jahre alt. Ich verlor fast alles, aber ich überlebte. Und dann hatte ich ein wirklich gutes Leben. Habe Medizin studiert, hatte eine Hausarztpraxis. Habe viele Menschen beim Leben und Sterben begleitet.

Vor vier Jahren starb Elsa. Und dann mein Schlaganfall. Ich kam allein nicht mehr zurecht. Unser Sohn Johannes brachte mich hierher, zu meinem Besten.

Jetzt war Corona. Ich durfte nicht mehr mein Zimmer verlassen. Kein gemeinsames Mittagessen mehr. Keine Gespräche. Das Essen wurde dreimal täglich an die Klinke gehängt. Johannes durfte mich nicht besuchen, meine Enkelin Sarah auch nicht. Die Ansteckungsgefahr wäre zu groß. Ich war Arzt. Das hier war Irrsinn.

Einsamkeit ist ein langsamer Tod. Ich hab so viel erlebt. Aber das hier ist das Schlimmste. Niemand hat mich gefragt. Es wurde einfach entschieden. Ich war Risikogruppe. Und in einem Pflegeheim. Man müsste mich schützen. Ich wollte leben, nicht mumifiziert werden. Aber ich hatte keine Chance. Ich war zu alt. Johannes rief alle zwei Tage an. Ich sagte immer: Mir geht es gut. Er sollte keine Schuldgefühle haben. Und ich wünschte mir, dem Ganzen hier einfach ein Ende zu setzen.

 

 

Behaglich lehnte ich mich in meinem Gartenstuhl zurück, blickte auf den blühenden Flieder und atmete tief durch. Ich hörte den Prosecco im Glas perlen.

Was für ein Geschenk dieser Lockdown doch war. Ich musste nicht auf Geschäftsreisen, konnte hier im Garten sitzen und einfach mal die Entschleunigung genießen. Und all die Bücher lesen, für die ich immer keine Zeit gehabt hatte.

Zufrieden lächelte ich vor mich hin. Und dann noch dieses zauberhafte Wetter.

Anna kam mit einem Obstteller auf die Terrasse.

„Ist ja fast wie Urlaub, oder? Uns geht es wirklich gut!“ Sie setzte sich in den Strandkorb, den wir letztes Jahr gekauft hatten.

Ich nahm mir ein Stück Ananas. „Und für die CO2-Bilanz ist das jetzt richtig gut. Keiner reist mehr. Das hätte Greta sich nicht träumen lassen.“

Anna lächelte: „Ja, diese Krise ist eine große Chance.“

Ich schlug die ZEIT auf. Umfrage an die ZEIT-Leser: ‚Wie geht es Ihnen im Lockdown? Wir haben den Eindruck, dass es vielen unserer Leser besser geht als vorher.’

„Ich habe gestern mit Frank telefoniert“, sagte ich zu Anna.

„Und?“

„Er faselte etwas von Grundrechten. Das ginge so nicht, dass man einfach das Grundgesetz aushebelt. Er war ganz außer sich.“

„Ich fühle mich in meinen Grundrechten nicht eingeschränkt“, meinte Anna. „Ist doch alles fast wie immer.“

„Ja, Frank eben, er ist immer so ein bisschen überkorrekt, kennst du ja.“

„Wo fahren wir denn diesen Sommer hin, Liebling?“

Anna angelte sich ein Stück Mango vom Teller.

 

 

Seit dreißig Jahren ging ich jeden Sonntag zur Kirche. Obwohl ich in einer Großstadt lebte, waren wir nie viele Menschen in der kleinen Stadtteilkirche. Ich war froh, dass ich noch so gut zu Fuß war und dahingehen konnte. Es war die Krönung jeder Woche, im Gottesdienst zu sitzen, der Orgel zu lauschen, dem Pastor zuzuhören, zu singen und mit dem Allmächtigen zu sein. Es gab mir Kraft für die ganze Woche. Ich habe erst mit Ende vierzig meinen Glauben entdeckt. Und den Trost und den Halt darin gefunden, den ich brauchte, um weiterleben zu können, nach dem Tod meines Mannes und beider Kinder. Und dann noch meine eigene schwere Erkrankung. In der Kirche war ich nie allein. Jetzt fanden die Gottesdienste nicht mehr statt. Ich verstand das nicht. Wir saßen immer weit auseinander, es war eine große Kirche, und es waren nie viele Leute da. Wir waren fast immer dieselben.

„Frau Althusen“, der Pastor Uhlig rief mich extra an, „es tut mir leid, ich darf nicht mehr predigen in Corona-Zeiten. Ich weiß, dass es für Sie wichtig ist. Sie können mich jederzeit anrufen. Gottesdienste gibt es jetzt nur im Fernsehen.“

Ich wollte keinen Gottesdienst im Fernsehen anschauen.

 

 

Das konnte nicht wahr sein. Die konnten doch nicht eben mal die Grundrechte aushebeln. Wegen eines Virus, von dem keiner wusste, wie gefährlich er wirklich war. In Windeseile schaffte man hier die Freiheit ab, und keiner beschwerte sich. Moment, was war hier los?

Aufhebung der Religionsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Berufsfreiheit, der Reisefreiheit.... und keiner sagte etwas? Alle duckten sich vor dem vermeintlich todbringenden Virus weg, bereit eine Demokratie vor die Wand zu fahren?

Wie konnte man das physische Überleben, den Infektionsschutz über alles stellen?

Hatte ich nicht sonst auch die Entscheidungsfreiheit, mich einem Risiko auszusetzen oder nicht. Hatte es den Staat je interessiert, ob ich wie ein Fass soff, rauchte wie ein Schlot, mich an einem Seil in tiefe Schluchten stürzte oder an Krankenhauskeimen starb? Ich konnte es nicht glauben. Man musste etwas tun, aber demonstrieren war verboten. Ansteckungsgefahr zu hoch. Ich war kein Jurist, aber ich war Demokrat. Und das hier konnte nicht angehen.

Ich rief meinen besten Freund Justus an. „Lass uns eine Demonstration organisieren. Wir müssen etwas tun. Das geht so nicht.“

„Spinnst du? Spätestens wenn deine Liebsten am Beatmungsgerät hängen, verstehst du, in welcher dramatischen Lage wir uns befinden. Wir wollen doch keine italienischen Verhältnisse.“

„Aber die Grundrechte – hier wird ein Infektionsschutzgesetz über Nacht geändert, das es möglich macht ohne parlamentarische Beteiligung durchzuregieren und die Grundrechte außer Kraft zu setzen – das kann man doch nicht widerstandslos hinnehmen!“

„Bitte, Frank, werde vernünftig. Wollen wir alle sterben?“

Ich legte den Hörer auf.

 

 

Alle Geschäfte dicht. Nur noch Drogerien und Lebensmittelgeschäfte offen. Leere Regale. Keine Nudeln, kein Reis, kein Klopapier. Ich irrte durch die Gänge des fast leeren Supermarktes. Das war wohl keine so coole Idee gewesen, abends einkaufen zu gehen. Dann gab es eben Tiefkühlpizza. Das durfte nicht wahr sein. Da war nichts mehr. Die Leute hatten alles leergekauft. Aber wir halten ja alle zusammen, sind ja so solidarisch. Predigen die da oben doch immer. Klar, man.

Und ich war einer von denen, die die jetzt immer beklatschen. Krankenpfleger, im dritten Ausbildungsjahr. Hätte lieber eine Pizza als deren Geklatsche. Oder mehr Geld. Oder beides. Mache den Beruf echt gerne, auch wenn es voll anstrengend ist. Gerade jetzt, mit den ganzen Auflagen. Aber man musste jetzt auch da sein für die Leute im Krankenhaus. Die durften ja keinen Besuch bekommen. Manche weinten. Und ich musste dann immer völlig vermummt wie so ein Marsmensch herumrennen, als hätten wir alle Ebola. So eine Kacke. Menschen müssen berührt werden, brauchen Nähe, ist doch klar. Und jetzt hätte ich gern etwas zu essen. Und Klopapier brauchte ich auch. Dann mal in den nächsten Laden. Hoffentlich musste ich nicht den ganzen Abend nach etwas Essbarem suchen, war echt müde.

 

 

Vor drei Wochen die Diagnose, mit der ich nicht gerechnet hatte. Krebs.

„Wir operieren Sie so schnell wir möglich“, hatte der Arzt gesagt.

Dann kam der Lockdown.

Man rief mich an. „Es tut uns leid, aber wir müssen die OP verschieben. Wir müssen die Betten für Covid-19-Patienten freihalten.“

Ich schluckte. „Sie hatten gesagt, es sei wichtig, dass so schnell wie möglich operiert werde?“

„Ja, grundsätzlich ja, aber im Moment ist eine Ausnahmesituation. Ich melde mich wieder.“

„Wie lange muss ich warten? Sie haben doch gesagt, man dürfe nicht zu lange warten?“

„Ich weiß es nicht, ich melde mich.“

In Corona-Zeiten durfte man nicht erkranken, schon gar nicht schwer.

Schlechtes Timing, dachte ich.

 

 

Nach dem ganzen Hin und Her, Masken sind sinnlos, Masken nur für medizinisches Personal, nun also Maskenpflicht für alle. Seit meinem achten Lebensjahr litt ich unter einer schweren Panikstörung. Ich versuchte es, wollte ja auch solidarisch sein, setzte mir eine Maske auf und betrat den Supermarkt.
Ich atmete schneller, mir wurde schwindelig. Einfach schön weitergehen. Das war bestimmt nur Gewöhnungssache. Ich klammerte mich an den Einkaufswagen. Die Regale verschwammen vor meinen Augen. Kalter Schweiß brach aus. Alles flimmerte. Herzrasen. Verdammt. Alles drehte sich. Ich ließ den Einkaufswagen stehen und rannte nach draußen. Riss mir die Maske ab. Setzte mich auf die Bordsteinkante. So eine Scheiße. Mein Herz jagte weiter. Ich stand auf und schmiss die Maske in den nächsten Papierkorb. Es ging nicht. Es bringt nur etwas, wenn es alle tragen, hatte meine Nachbarin gesagt, als ich gemeint hätte, dass es ja für Menschen mit Vorerkrankungen Ausnahmeregelungen gibt.
Panikattacken beim Einkaufen. Wegen dieses Scheißdings. Langsam ging ich zurück in den Laden. Ohne Maske.

Der Filialleiter kam auf mich zu. „Sie müssen eine Maske anziehen.“

„Ich habe eine Vorerkrankung, ich darf keine Maske tragen.“

„Dann müssen Sie eben jemand anderen für Sie einkaufen lassen.“

„Es gibt eine Ausnahmeregelung. Die ist von den Ländern erlassen worden. Auch ich darf hier noch einkaufen.“

„Davon weiß ich nichts. Hier ist Zutritt nur mit Maske.“

„Könnten sie mal die Verordnung der Bundesländer lesen, wo das drinnen steht?“

Ich nahm meinen Rucksack ab, zerrte den weißen Schrieb meiner Ärztin heraus.

„Hier ein Attest, darf ich jetzt einkaufen?“

„Nein, es ist mein Hausrecht, Ihnen den Zutritt hier zu verweigern, wenn Sie keine Maske tragen wollen. Sonst kommt hier das Ordnungsamt, und dann zahle ich 5000€ Strafe, weil Sie hier ohne Maske durchspazieren.“

Ich drehte mich um. Ich hatte es trotz Attest mit Maske versucht, weil ich genau so etwas befürchtet hatte.
Wenn das jetzt wochenlang so gehen würde, hatte ich ein Problem.