· 

Ein brüchiges Narrativ

In einem demokratischen Land zu leben, ist ein hohes Gut. In einem Land, das Grundrechte wie Glaubensfreiheit, Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Berufsfreiheit in einem Grundgesetz festgelegt hat.

Mit der Corona-Krise kam ein geändertes Infektionsschutzgesetz, das etliche dieser Grundrechte für einige Zeit außer Kraft setzte und das es ermöglichte mit Not-Verordnungen ohne parlamentarische Beteiligung durchzuregieren. Für eine kurze Zeit, in der ein Virus um sich greift, das man nicht kennt, eine Möglichkeit, um dessen Verbreitung einzudämmen. Die Betonung liegt auf: für kurze Zeit.

Was ein geändertes Infektionsschutzgesetz für Konsequenzen hat, für wie lange eine solche Notstandsgesetzgebung geplant ist, was Verhältnismäßigkeit bedeutet, all dies wurde und wird kaum an die Bevölkerung kommuniziert.

Diese wurde mithilfe quälender Horrorszenarien medial darauf vorbereitet, sich tunlichst an alle Verbote, Pflichten, Zwänge und Sperren zu halten, und zwar auf unbestimmte Zeit.

Der mündige Bürger, die mündige Bürgerin konnte und musste für sich entscheiden, welches Gut für ihn oder sie mehr wiegt – Gesundheit oder Freiheit, Infektionsschutz oder Demokratie. Wobei mit Gesundheit hier allein das physische Überleben gemeint ist, seelisch-geistige Gesundheit spielt in Pandemiezeiten keine Rolle.

Bald bildeten sich zwei Lager in der Bevölkerung: Die einen feiern sich im strengen Befolgen der Regeln als solidarisch, blenden die Kollateralschäden eines Lockdowns aus und folgen dem von der Regierung vorgegebenen absoluten Primat des Infektionsschutzes. Die anderen bekommen ein mulmiges Gefühl im Bauch angesichts der Aussetzung zahlreicher Grundrechte, sorgen sich wegen massiver psychosozialer und wirtschaftlicher Folgen der Einschränkungen und sind nicht bereit, das hohe Gut der Freiheit widerstandslos aufzugeben.

Letztere gingen in vielen deutschen Städten, sobald das Grundrecht der Versammlungsfreiheit wieder in Kraft getreten war, auf die Straße, um für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Eigentlich ein Hoffnungsschimmer in einem Land, das während einer NS-Diktatur erfahren hat, was passieren kann, wenn ein Volk sich unterwirft und mitläuft. Doch schon zu diesem Zeitpunkt wurden die DemonstrantInnen sofort verunglimpft als Verschwörungstheoretiker oder wahlweise als der rechten Szene zugehörig. Dass von Anfang an viele Menschen aus der Mitte der Gesellschaft auf die Straße gingen - Eltern mit kleinen Kindern, Krankenschwestern, KünstlerInnen, LehrerInnen, ÄrztInnen, HandwerkerInnen, GastronomInnen, JuristInnen, Studierende – davon wollte und will man keine Notiz nehmen.

Es gibt ein Narrativ: Corona ist tödlich, der Infektionsschutz steht über allem und die verfügten Maßnahmen sind alternativlos. Daran darf nicht gerüttelt werden.

Wenn in einem Großteil der Bevölkerung ankommen würde, dass es auch in Sachen Corona mehrere Standpunkte gibt, dass sich auch die WissenschaftlerInnen alles andere als einige sind, scheint dies gefährlich. Wenn die Presse einstimmig behauptet, alle DemonstrantInnen seien rechts oder verwirrt, würde dies viele Menschen davon abhalten, sich dieser neuen Demokratiebewegung anzuschließen. Der Plan schien zeitweise aufzugehen. Nach anfänglichen hohen TeilnehmerInnen-Zahlen, vor allem in Stuttgart, wurden die Demonstrationen nach Ende des Lockdowns wieder kleiner.

Doch dann kam Berlin. Bereits im Vorfeld der für den ersten August angekündigten Demonstration wurde in den Medien erneut behauptet, dass sich eine wirre Mischung aus merkwürdigen und extremen Menschen dort versammeln würde, die einfach zu dumm seien, um die Corona-Regeln zu verstehen. Und man sprach von maximal ein- bis zweitausend DemonstrantInnen, die dort erscheinen würden. Es kamen Zehntausende, vielleicht Hunderttausende – eine Menge von Menschen, die man eigentlich nicht alle eben mal als rechts oder verschwörungstheoretisch unter den Tisch kehren kann. Man versuchte es trotzdem. Und regte sich maßlos darüber auf, dass die DemonstrantInnen sich nicht an Abstandsregeln hielten. Das Pikante war, dass es in Deutschland einige Wochen zuvor antirassistische Demonstrationen gegeben hatte mit zehntausenden Teilnehmenden, inmitten der Corona-Krise, ohne jeglichen Abstand. Hier feierte die Presse das gesellschaftliche Engagement und wies nur am Rande freundlich daraufhin, dass man nächstes Mal darauf achten solle, die Abstandsregeln besser einzuhalten.
Zweierlei Maß für Demonstrationen ist natürlich nicht mit einem demokratischen Rechtsstaat zu vereinbaren.

Es gibt ein berechtigtes Interesse, derzeit angesichts der Corona-Maßnahmen auf die Straße zu gehen. Weil man als Gastronom wegen des Lockdowns bankrott gegangen ist, weil man seine sterbende Mutter im Krankenhaus nicht besuchen durfte, weil man als Künstler ohne Aufträge vor dem Ruin steht, weil man psychisch krank ist und das Versorgungsnetz zusammengebrochen ist, weil man als SängerIn seinen Beruf nicht mehr ausüben darf, weil der demente Vater für Monate im Altenheim unter Kontakt- und Besuchsverbot eingesperrt wird, weil man aus medizinischen Gründen von der Maskenpflicht befreit ist, aber sich nicht mehr im öffentlichen Raum bewegen kann, ohne denunziert zu werden, weil man als Arzt oder Ärztin die Sinnlosigkeit vieler Maßnahmen kennt, weil man LehrerIn ist und mit überbordenden Hygieneverordnungen tyrannisiert wird, die Unterrichten unmöglich machen, weil man DemokratIn ist und die monatelange Aussetzung der Grundrechte nicht einfach hinnimmt, weil...... – die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen.

Und hier haben wir ein Problem.

Wer auf die Straße geht und sich öffentlich dazu bekennt, die Corona-Politik in Frage zu stellen, gilt entweder als rechtsradikal oder muss sich den Vorwurf anhören, er sympathisiere mit Rechts, weil Rechte versuchen, die Demonstrationen zu kapern. Oder man ist ein verwirrter Verschwörungsfantast, also nicht zurechnungsfähig.

Wie kann ich in diesen Zeiten demonstrieren, ohne gleich als Extremist oder Irrer abgestempelt zu werden?

Seit Wochen verschärft sich die medial angeheizte Spaltung in der Gesellschaft, hier die Verantwortungsvollen, dort die Ignoranten, hier die Solidarischen, dort die Egoisten.

Freiheit ist der Kern jeder Demokratie. Freiheit bedeutet, selber entscheiden zu können, was man tut. Freiheit ist das Gegenteil von Zwang. Und Freiheit ist Kernstück der Grund- und Menschenrechte.

In Corona-Zeiten hat sich Freiheit dem Primat der Gesundheit (des physischen Überlebens) unterzuordnen. Freiheit gilt plötzlich als unsolidarisch, als verantwortungslos, Freiheit wird anrüchig. Angesichts eines vermeintlich tödlichen Virus ist Freiheit etwas Gefährliches. Menschen, die für Freiheit auf die Straßen gehen, wird unterstellt, dass sie bereit sind, die Gesundheit der Bevölkerung für ihre irre Freiheitsidee opfern.

DemonstrantInnen gelten pauschal als Corona-LeugnerInnen, auch wenn Corona-KritikerInnen der deutlich besser passende Begriff wäre. Das Problem ist, dass die meisten Journalisten, die über diese Demonstrationen schreiben, nie auf einer waren, sondern lediglich dem Tenor des mainstreams folgend die üblichen Pauschalierungen eifrig nachplappern.

Die meisten der DemonstrantInnen verleugnen nicht, dass es dieses Virus gibt, aber sie halten die Maßnahmen für nicht verhältnismäßig. Die meisten dieser DemonstrantInnen stammen aus der bürgerlichen Mitte, haben aber das Vertrauen in eine Politik verloren, die es an Transparenz mangeln lässt und die für zu viele Menschen zu wenige Perspektiven hinsichtlich der Einschränkungen bietet. Ebenso haben sie das Vertrauen in Journalisten verloren, die monatelang das ewig Gleiche berichten und sich als Hofschreiber betätigen.
Im Laufe der Zeit gab es zu viele Widersprüche in der Corona-Berichterstattung, als dass nicht viele Menschen angefangen haben, an den vermeintlichen Fakten zu zweifeln.

Wenn man diese Menschen alle als Covid-Idioten beschimpft, sagt man damit weniger über die DemonstrantInnen als über sich selbst, über die eigene Unfähigkeit mit Andersdenkenden umzugehen, über die eigene Intoleranz und den eigenen Dogmatismus.

Menschen, denen das Einstehen für demokratische Grundwerte eine Herzensangelegenheit ist, braucht man weder als Extremisten beschimpfen noch als Verwirrte und Labile belächeln. Man könnte anfangen zu bemerken, dass das vermeintlich alternativlose Narrativ brüchig geworden ist. Dass pauschale Abwertungen von DemonstrantInnen die berechtigte Wut in der Bevölkerung noch mehr anheizt.

Man könnte anfangen, in einen Dialog zu gehen und damit deutlich machen, dass Demokratie in Pandemie-Zeiten kein Luxusartikel ist.