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Die Meinungsvielfalt wieder aushalten lernen - für einen offenen Diskurs statt Spaltung

“Don't judge me /You could be me in another life / In another set of circumstances”....   Stings Worte in seinem Song ‘Tomorrow we will see’ sind immer wieder bedenkenswert.

Es ist einfach Menschen zu verurteilen, weil sie sich vermeintlich dumm, ignorant, unsolidarisch oder egoistisch verhalten. Meistens ist Verurteilung nötig, weil man in der Konfrontation mit einer ganz anderen Haltung und Meinung glaubt, sich dann nicht länger mit dieser anderen Meinung auseinandersetzen zu müssen. Das ist verständlich, das ist menschlich, aber es ist gefährlich. Vorurteile und Verurteilungen sind Abwertungen, die wie ein Gartenzaun um das eigene Grundstück, in diesem Fall um die eigene Meinung, gezogen werden, um seine Ruhe in dem eigenen gemütlich eingerichteten Weltbild zu haben.

So entstehen Fronten und Kluften in dieser sog. Corona-Krise, die kaum noch etwas oder jemand zu überbrücken vermag. Hier die Corona-Gläubigen, die Systemtreuen, die Mitläufer, dort die Corona-Leugner, die Verwirrten, die unsolidarischen Egoisten. Der Riss geht derzeit mitten durch Familien, durch Freundschaften, durch Gemeinschaften und Vereine. Jede Seite beklatscht begeistert jeden verbalen Farbbeutelwurf in Richtung des Meinungsgegners, je zynischer, desto besser. Beide Seiten verabsolutieren ihren Standpunkt, beanspruchen moralische Überlegenheit für sich.

Beide Lager nutzen brandbeschleunigende Rhetorik, um die eigene Position zu stärken und die Gegner, so muss man es wohl nennen, zu diffamieren. Auseinandersetzungen in den Kommentarleisten der social-media-Seiten waren nie dafür bekannt, dass hier ein besonders elaborierter Diskurs geführt wurde, zimperlich wurde hier nie miteinander umgegangen, doch in diesen Zeiten werden sie zu Kriegsgräben. Es wird nicht mehr zugehört, es wird nicht mehr nachgedacht – es geht nur noch darum, wie die andere Seite besonders effektiv bloßgestellt, verleumdet oder mundtot gemacht werden kann. Und das betrifft nicht nur die Kommentarleisten in den sozialen Medien – man findet diese Art von verbaler und emotionaler Kriegsführung derzeit unter jedem Presseartikel im Internet und darüber hinaus ganz direkt in der gesamten Berichterstattung.

Das markanteste Beispiel dafür ist die mediale Darstellung der Demonstrationen. In den großen, sog. seriösen Tages- und Wochenzeitungen wird die kompromisslose Polarisierung angeheizt um den Preis, dass aus Angst Hass wird, der sich schließlich vom Echoraum des Internets auf die Straße trägt und dort entlädt. In diesen Zeitungen wird von hirnlosen Covid-Idioten gesprochen, von verwirrten Hippies, von irren Verschwörungstheoretikern und davon, dass die Demonstrationen längst von der rechten Szene unterwandert worden seien.

Es mutet befremdlich an, dass Demonstrationen von BürgerInnen, die sich angesichts der monatelangen Aussetzung von Grundrechten Sorgen um unseren Rechtsstaat machen, nicht erleichtert als Anzeichen für eine noch funktionierende Demokratie genommen werden, sondern im Gegenteil als Indiz für geistige Verirrung angesehen werden.

Ob ein Mensch physische Gesundheit höher gewichtet als Freiheit oder eben andersherum – beide Entscheidungen sind möglich und nachvollziehbar. Und es ist wohl die zentrale Frage, die sich jeder in diesen Zeiten stellen und für sich beantworten muss. Was ist mir wichtiger – physische Gesundheit oder Freiheit bzw. wie viele Einschränkungen bin ich bereit in Kauf zu nehmen, um dadurch andere und mich zu schützen? Hier kann eine Wertediskussion entstehen, die wertvolle Impulse für das eigene Leben und das gesellschaftliche Zusammenleben zu geben vermag. Problematisch ist allerdings, dass diese Entscheidung nicht offen gelassen wurde, sondern dass staatlicherseits und medial das absolute Primat der Gesundheit verkündet und eingefordert wurde. Und Gesundheit bedeutet hier ausschließlich das physische Überleben, wenn alte und kranke Menschen, die wir ja alle schützen sollen, eingesperrt und isoliert werden. Seelische und geistige Gesundheit mit ihrer immensen Wichtigkeit für physische Gesundheit, die voneinander gar nicht zu trennen sind, tauchen in den sog. Maßnahmen nicht auf.

Die Frage, was einem Menschen wichtiger ist – Freiheit oder physisches Überleben – diese Frage muss jederzeit offen beantwortet werden dürfen. Alten Menschen, die in einem Alten- und Pflegeheim leben, muss die Wahl gelassen werden, ob sie das Risiko einer Infektion in Kauf nehmen wollen oder nicht. Es kann nicht sein, dass man diesen Menschen ihre Würde nimmt, indem man für sie entscheidet, ihnen die Wahl und damit die Freiheit nimmt in der anmaßenden Vorstellung, auf diese Weise das Beste für sie zu tun.

Jeder Mensch kann und darf diese Frage anders beantworten, anders gewichten. Wenn jemand aus seiner Biographie heraus sich entscheidet, dass ihm Freiheit und Demokratie wichtiger sind als Überleben um jeden Preis, dann darf man diesen Menschen nicht als unsolidarischen Egoisten beschimpfen. Zu behaupten, dass sich fehlgeleitete, privilegierte Wirrköpfe auf den Corona-Demonstrationen treffen, die es nicht ertragen könnten, wenn ihre Privilegien eingeschränkt werden, ist unangemessen und überheblich. Kein Mensch kann wissen, was in einem anderen Menschen vorgeht. Kein Mensch vermag einem anderen Menschen anzusehen, was ihn bewegt auf die Straße zu gehen und für Freiheit und Demokratie einzutreten. Die vermeintlich glitzernden Fassaden einer privilegierten bürgerlichen Schicht verbergen manchmal nur Tragödien, deren Schmerz niemand erahnen kann.

Es scheint so, dass wir wieder lernen müssen, Meinungsvielfalt und Widersprüche auszuhalten, dass wir es nicht mehr gewohnt sind zuzuhören und uns auseinanderzusetzen.

Dass wir vergessen haben, dass in einem wertschätzenden und lebendigen Austausch grundverschiedener Meinungen das Potential liegt zu wachsen, sich zu entwickeln und eigene Standpunkte zu überdenken. Und dass genau dies Demokratie bedeutet.

Es ist Vorsicht geboten bei vorschnellen Urteilen über Andersdenkende. So sagt ein indianisches Sprichwort: Urteile nicht über einen Menschen, bevor du nicht 1000 Meilen in seinen Mokassins gelaufen bist. Und damit sind wir wieder bei Sting: “Don't judge me /You could be me in another life / In another set of circumstances”....