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Hilferuf der niedersächsischen KünstlerInnen - ein offener Brief

Lieber Ministerpräsident Weil,

dieses Mal schreibe ich Ihnen, um einen Hilferuf der niedersächsischen KünstlerInnen weiterzugeben, der aber vermutlich alle KünstlerInnen bundesweit betreffen dürfte.

Ich selber bin seit fast zwanzig Jahren im Verband deutscher SchriftstellerInnen (VS – ver.di) und war bis vor kurzem über zehn Jahre im Vorstand tätig. Zudem bewege ich mich in einem Netzwerk aus KünstlerInnen aller Sparten (bildende KünstlerInnen, MusikerInnen, TänzerInnen, SchriftstellerInnen etc.).

Die meisten dieser KünstlerInnen, die oft unter ‚Soloselbständige’ geführt werden, können nicht allein von Büchern, Tanzauftritten, Konzerten usw. leben.
Fast alle, die ich kenne, unterrichten ihre Kunst, leiten Kurse, die oft in Kleingruppen stattfinden. Damit meine ich nicht staatliche Einrichtungen wie die Volkshochschulen, sondern eigene kleine Gruppen in den eigenen Ateliers/Räumen.

Ich selber habe mir über viele Jahre in Hannover eine Schule für Literarisches Schreiben aufgebaut, in der ich seit 2007 Kleingruppen im literarischen Schreiben unterrichte.
Diese Unterrichtstätigkeit sichert das Überleben, das ist bei mir so – denn als Schriftstellerin kann man allein vom Schreiben nur leben, wenn man BestsellerautorIn ist – und bei anderen KünstlerInnen ebenso.
Wenn Sie hoffentlich bald die Maßnahmen lockern werden und z.B. höhere Schulklassen wieder zur Schule gehen lassen wollen oder Restaurants und Café öffnen wollen, mit dem entsprechenden gebotenen Mindestabstand, dann denken Sie bitte, bitte auch an uns KünstlerInnen und erlauben wieder den Unterricht in Kleingruppen.
Hier dürfte es überhaupt kein Problem sein, entsprechend Abstand einzuhalten. Anders als in der Volkshochsschule werden hier keine Massen an Menschen durchgeschleust - Erwachsenenbildung ist nicht gleich Erwachsenenbildung.
Wir KünstlerInnen bereichern seit Jahrzehnten das Kulturleben, sorgen für Inspiration und geistigen Austausch, sind Spiegel und wichtige Mitglieder dieser Gesellschaft.
Bitte sorgen Sie dafür, dass nicht die ganze Kulturlandschaft wegen Corona gerodet wird.
Diese Gesellschaft wäre eine öde Wüste ohne Lesungen, Konzerte, Ausstellungen, Galerien, Theater – und ohne künstlerische Erwachsenenbildung im kleinen Rahmen. Insbesondere die freie Kulturszene ist aufgrund der derzeitigen Maßnahmen höchst gefährdet.
Hinzu kommt, dass die staatlichen Hilfsmaßnahmen an den freischaffenden KünstlerInnen völlig vorbeigehen – u.a. die Süddeutsche Zeitung, aber auch der Verband deutscher SchriftstellerInnen, wiesen darauf  hin:

"Denn immer deutlicher wird, dass die staatlichen Hilfsmaßnahmen an der Lebensrealität von freischaffenden Künstlern vorbei gehen und deshalb in vielen Fällen gar nicht oder nur begrenzt greifen. Das milliardenschwere Hilfspaket des Bundes wendet sich allgemein an Selbstständige und Unternehmer, denen vor allem Überbrückung bei Liquiditätsengpässen zugesagt, aber auch Steuerstundungen und erleichterte Kredite in Aussicht gestellt werden. Doch in vielen Bundesländern gelten nur solche Verbindlichkeiten als Engpässe, die sich aus Sach- und Finanzaufwand für das laufende Geschäft ergeben, also für Angestellte oder das Büro, für die Abzahlung bereits laufender Kredite oder die Zahlung von Rechnungen an andere Firmen. All das aber sind Kosten, die freischaffende Künstler üblicherweise gar nicht haben. Schriftsteller brauchen kein Personal, Musiker kein Büro und Maler zahlen ihre Farben meistens gleich im Geschäft. Auch Steuerstundungen nützen ihnen wenig, da viele von ihnen ohnehin Geringverdiener sind und kaum Steuern zahlen." (Süddeutsche Zeitung, 6.4.20)
Wenn diese staatlichen Maßnahmen schon völlig an uns vorbeigehen, dann lassen Sie wieder den Unterricht in Kleinst- und Kleingrupppen zu. Lassen Sie zu, dass wir wieder Literatur, Musik und Kunst unterrichten dürfen. Wir sind die Seele der Gesellschaft!
Tragen Sie dazu bei, dass die KünstlerInnen weiter ihre wertvolle Arbeit machen und vor allem überleben können.
Vielen Dank.

Freundliche und demokratische Grüße

Gyde Callesen