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Offener Brief an Ministerpräsident Weil

Lieber Ministerpräsident Weil,
bezüglich der oft zitierten Systemrelevanz habe ich einige Fragen:
Wieso sind Weinhandlungen systemrelevant, aber Buchläden und Bibliotheken nicht?
Der Mensch lebt immer und auch gerade in diesen Zeiten von geistiger Nahrung.
Warum ist es systemrelevant Baumärkte zu öffnen, aber zugleich wird Menschen verboten, in würdiger Art und Weise Abschied von ihren Verstorbenen zu nehmen?
Die Maßnahmen werfen zunehmend mehr Fragen auf und sie sind ein verstörendes Spiegelbild dessen, was in unserer Gesellschaft für relevant gehalten wird.
Ich selber als Schriftstellerin und Kulturschaffende mache mir zunehmend Sorgen um unsere Demokratie, deren Rückgrat, die Grundrechte, auf unbestimmte Zeit ausgehebelt sind - im Rahmen des eben noch schnell geänderten Infektionsschutzgesetzes. Unser Rechtsstaat nimmt derzeit beträchtlichen Schaden - all dies wird immer wieder mit denselben Worten begründet: alternativlos.
Die Medien sind weitestgehend zu StaatdienerInnen geworden und berichten nicht mehr kontrovers und kritisch. Die derzeitige Sprache sowohl in den Medien als auch seitens der PoltikerInnen wird genutzt, um die Menschen zu manipulieren, ihnen Angst  und sie damit gefügig zu machen.
Als Schriftstellerin, die jeden Tag mit Sprache umgeht und der es immer ein Anliegen war, politisch und gesellschaftskritisch zu schreiben, beobachte ich die derzeitige Lage mit wachsender Sorge.
Sie als PolitikerInnen dürfen nicht nur über Fallzahlen reden, die zudem immer wieder nicht richtig eingeordnet und auch irreführend verwendet werden, sondern Sie müssen auch über Demokratie reden.
Sie können nicht nur über Virusbekämpfung sprechen, schreiben und posten. Sie müssen den Ernst der Lage nicht nur bezüglich des Virus ansprechen, sondern auch hinsichtlich unseres Rechtsstaates. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass unsere Grundrechte Luxus sind, auf die man auch gut verzichten kann.
Bitte übernehmen Sie wieder Verantwortung für die Demokratie, nicht nur für die Gesundheit der BürgerInnen.
Ich habe keine Ahnung, ob Sie diese Zeilen überhaupt lesen werden. Ich sehe meine Aufgabe als BürgerIn eines demokratischen Staates trotzdem darin, mich mit diesem Anliegen an Sie als Politiker zu wenden.
Vielen Dank.
Freundliche, demokratische Grüße
Gyde Callesen, Schriftstellerin und Dozentin